Die Protokollantin

Nina Grosse, Radsi, Kurth, Bleibtreu & Iris Berben als Türöffner in die neue Serienwelt

Foto: ZDF / Alexander Fischerkoesen
Foto Rainer Tittelbach

Eine Heldin über 60, eine stille, bescheidene ältere Dame, die ungeschminkt zur Arbeit geht, die mit ihrer Katze spricht und Beziehungen zu anderen Menschen meidet, die ein bizarres Doppelleben als Racheengel führt, die ihren Bruder liebt, ihn aber nicht in ihr Geheimnis einweiht, und die bald auch wieder an der Liebe zwischen Mann und Frau schnuppern darf – eine solche ambivalente Heldin ist ungewöhnlich für eine Fernsehserie. Dramaturgisch erinnert in „Die Protokollantin“ (ZDF / Moovie) wenig ans herkömmliche deutsche Krimi-Fernsehen, die Serie besitzt aber auch nicht viel vom amerikanischen Mainstream-Prinzip „Spannung first“. Drama, Krimi, Liebesgeschichte – dieser hierzulande ungewöhnliche Genre-Mix zeichnet sich narrativ und stilistisch durch seine Nähe zum französischen (Krimi-)Kino der 1970er Jahr aus. Das ZDF setzt mit dieser fünfstündigen Mini-Serie, vor allem auf seine Stammzuschauer, und versucht, ihnen die schöne neue Serienwelt näherzubringen.

Eine Frau mit einer Mission, die der Gerechtigkeit auf die Sprunge helfen will
Freya Becker (Iris Berben) arbeitet als Protokollantin beim LKA Berlin. Diese Frau um die 60 ist unscheinbar, sie ist freundlich, aber zurückhaltend, nach außen wirkt sie ausgeglichen, und doch scheint sie eine Getriebene zu sein. Sie ist keine normale Schreibkraft. Inhalt ihrer Arbeit sind Tag ein Tag aus die immergleichen grausamen, abscheulichen Taten, deren Berichte sie niederschreiben muss. Meist sind es Männer, die ihre Frauen zu Tode prügeln, vergewaltigen oder ihre Kinder missbrauchen. Freya ist biographisch vorbelastet, häusliche Gewalt war das Thema ihrer Kindheit. Irgendwann verließ sie das Elternhaus mit ihrem Bruder Jo (Moritz Bleibtreu) und heiratete später einen Polizisten. Doch dann verschwand vor elf Jahren ihre Tochter Marie (Zoe Moore). Alle nehmen an, dass sie tot ist, allein Freya kann noch immer nicht loslassen. Ihr Mann hat den Schicksalsschlag nicht überlebt. Ein Grund mehr für ihre Mission, der Gerechtigkeit auf die Sprünge zu helfen. Ein aktueller Fall geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Auch hier ist eine junge Frau verschwunden, nachdem sie vergewaltigt wurde, und als der Mann, Thilo Menken (Andreas Lust), den sie und alle Kollegen, von Anne Liebig (Katharina Schlothauer) bis Yanik Akbay (Timur Isik), für den Täter halten, freigesprochen wird, weiß sie, dass sie und ihr Mitstreiter für das Recht und den eigenen Seelenfrieden (Johannes Krisch) handeln müssen. Doch bald wird die Lage brenzlig für Freya. Denn ihr neuer Chef Henry Silowski (Peter Kurth), den sie noch vom Fall ihrer Tochter her kennt, will bei den Menke-Ermittlungen alle ähnlichen, ungeklärten Mordfälle der letzten zehn Jahre einbeziehen. Und dieser mythenumwobene Bulle hat ein Auge auf die stille Frau geworfen.

Die ProtokollantinFoto: ZDF / Alexander Fischerkoesen
Mal eine andere Sicht auf die Polizeiarbeit: aus der Perspektive einer Protokollantin beim LKA Berlin. Iris Berben spielt eine stille, zurückhaltende und bescheidene Frau, die allerdings – seitdem ihre Tochter verschwunden ist – ihre dunkle Seite auslebt.

„Sie darf sich nicht äußern, sie darf nicht eingreifen, sie bleibt die passive, tippende Frau, die in einer Art Echo-Raum die Taten der Männer festhält. Was passiert mit dieser Frau? Was macht das mit ihr? Diesen Gedanken konsequent weiterzudenken, auch in eine schwarze Richtung, war für mich der sehr spannende Ausgangspunkt zu dieser Miniserie“ (Nina Grosse, Konzeption, Buch, Regie)

Eine solche ambivalente Heldin ist ungewöhnlich für eine deutsche Fernsehserie
Eine Titelheldin über 60, eine etwas vorgestrige ältere Dame, die ungeschminkt zur Arbeit geht, die mit ihrer Katze spricht und engere Beziehungen zu anderen Menschen meidet, die ein bizarres Doppelleben als grauer Racheengel führt, die ihren Bruder liebt, ihn aber nicht in ihr Geheimnis einweiht, und die bald auch wieder an der Liebe zwischen Mann und Frau schnuppern darf – eine solche ambivalente Heldin ist ungewöhnlich für eine Fernsehserie. „Das Abgründige, Dunkle schien allein Männern vorbehalten zu sein“, betont die Filmemacherin Nina Grosse („Der fremde Sohn“), die führende kreative Kraft hinter der fünfteiligen Mini-Serie „Die Protokollantin“. Das habe lange Zeit auch fürs Kino gegolten, bis heute Filme wie „Three Billboards outside Ebbing Missouri“ oder „Elle“ Frauen (wieder) undurchschaubar, aggressiv und als Täterinnen zeigen dürften. Ein Novum ist es vor allem fürs deutsche Fernsehen, in dem – anders als in der (Krimi-)Literatur – ohne 100%ige Identifikationsfiguren lange Zeit gar nichts ging. Der Schriftsteller und Drehbuchautor Friedrich Ani („Kommissar Süden“) hat die Idee zur Serie gehabt, und Grosse hat ihr einen nicht zu komplizierten Plot gegeben, dessen Geheimnisse nach und nach gelüftet werden. Da gibt es noch den mutmaßlichen Mörder (Misel Maticevic) von Freyas Tochter Marie, dazu eine leicht anrüchige Vorgeschichte, die zeigt, dass auch Jo, der Bruder der Hauptfigur nicht nur ein Kümmerer ist bezüglich seiner von depressiven Schüben geplagten Frau (Laura de Boer) und seiner neuen „Errungenschaft“, einem Escort-Girl (Tinka Fürst), sondern ihm auch etwas Halbseidenes anhaftet. Die Backstory enthält auch einige Motive für die Selbstjustiz der Heldin, die aus kleinbürgerlichen Verhältnissen kommt und in Bayern sehr katholisch aufgewachsen ist. Und im Hier und Jetzt ist es vor allem die ehrgeizige junge Kommissarin Anne, die sich von ihrem neuen Chef eine freundliche Abfuhr holt (es gibt also noch Männer, die ihre Macht nicht missbrauchen!), die durch ihre Ermittlungen der ungeklärten Mordfälle Freya auf die Schliche zu kommen droht. Alles in allem bleibt die Handlung übersichtlich.

Die ProtokollantinFoto: ZDF / Alexander Fischerkoesen
Freyas sehr viel jüngerer Bruder Jo (Moritz Bleibtreu) gehört zu einer anderen Generation, legt ein anderes Verhalten und eine andere Moral an den Tag. „Ich gehöre nicht mehr dazu“, sagt die Heldin. SIE hat sich durch ihre Taten aus der Gesellschaft hinaus manövriert, während ER kräftig mitmischt, sogar Teilhaber an einem Escort-Service ist. Das halbseidene Milieu hat offenbar Freyas Tochter das Leben gekostet.

„Für mich ist das Ungewöhnliche an dieser Rolle nicht das äußere Erscheinungsbild. Für mich ist es die Reduktion im Spiel … Für einen Schauspieler ist diese Reduziertheit eigentlich die schönste Basis zum Spielen. Man kann sich hinter nichts mehr verstecken und muss im wahrsten Sinne des Wortes ‚nackt‘ spielen. Dein Gesicht steht im Fokus und erzählt Geschichten: Schmerz, Wut, Unverständnis. Es war reizvoll, diese Freya als eine zurückhaltende, aber auch sehr gefährliche Frau mit aller Zurückhaltung zu spielen, die trotzdem eine große Eindringlichkeit hat.“ (Iris Berben)

Die Filmsprache orientiert sich an der zurückhaltenden Hauptfigur
Die Gewerke Szenenbild, Kamera und Kostüm erzählen eindrucksvoll die Geschichte mit. Die Verliebtheit bringt einen Hauch von Farbe (rote Punkte) in die Braun- und Anthrazittöne von Freyas Kleidung. Das Szenenbild von Christian Schäfer und die Kamera von Alexander Fischerkoesen passen sich stärker der bescheidenen, nachdenklichen Hauptfigur an als den potenziellen visuell attraktiven Milieus (Escort-Service, Gourmet-Lokal), und auch die Verhör-Situationen werden nicht optisch übermäßg stilisiert, in ihnen wird allenfalls (durch die niedrige Decke) der Käfigcharakter des Verhörraums betont. Die Filmsprache (Regie führt neben Grosse auch Samira Radsi, „Deutschland 83“) ist stilsicher, homogen, aber insgesamt zurückhaltend und moderat unterkühlt. Die ZDF-Redaktion hat dafür den Genre-Begriff „Berlin Noir Stil“ gefunden.

Die ProtokollantinFoto: ZDF / Alexander Fischerkoesen
Erscheinungen. Tochter Marie (Zoe Moore) geht Freya (Iris Berben) nicht aus dem Sinn. „Die Protokollantin“ (ZDF, 2018)

„Die Protokollantin“ könnte dem ZDF-Zuschauer „zeigen“, was Serie sein kann
Dramaturgisch erinnert in „Die Protokollantin“ wenig ans herkömmliche deutsche Krimi-Fernsehen, die Serie besitzt aber auch nicht (zu) viel vom amerikanischen Mainstream-Prinzip „Spannung first“. Binge-Watching-Fans werden das möglicherweise bemängeln und die serielle magische Sogkraft vermissen. Diese fünfstündige Serie, die den Zuschauer mit Ausnahme der letzten hochspannenden Folge immer ein bisschen auf Distanz hält, steht allerdings in einer ganz anderen Erzähltradition. Sie besitzt durch ihren ungewöhnlichen Genre-Mix eine stilistische Nähe zum französischen (Krimi-)Kino der 1970er Jahre: Aus „Das Mädchen und der Kommissar“ (Claude Sautet, 1971) wird quasi „Die ältere Dame und der Bulle“. Drama, Krimi, Liebesgeschichte – an diese Mischung hat sich hierzulande zuletzt Stephan Wagner mit „Lösegeld“ gewagt; das ist nun auch schon wieder sechs Jahre her. Die drei Genres ernsthaft – also ohne Ironie – in einer Geschichte auf Liebe und Tod zu vereinen, dürfte die größte narrative Herausforderung für Nina Grosse gewesen sein. Ob die deutschen Fernsehzuschauer, die in der Mehrzahl keine Beziehung zur Filmgeschichte haben und denen auch keine allzu große Lust, sich auf ungewohntes Terrain zu begeben, nachgesagt werden kann, sich auf dieses vierwöchige Serienabenteuer einlassen werden, bleibt gespannt abzuwarten. Eines aber scheint sicher: „Die Protokollantin“ dürfte die Serien-affine Zielgruppe der 20- bis 40-Jährigen kaum ansprechen. Das ZDF richtet sich mit diesem Event-Programm vor allem an ihre Stammzuschauer. Neu ist allerdings das Format. Und so könnte die Produktion aus dem Hause Moovie, das sich zuletzt besonders durch die Verfilmung der Schriften von Ferdinand von Schirach hervorgetan hat, die Serie werden, die dem konservativen „Durchschnittsfernsehzuschauer“ mehr noch als „Verbrechen“, „Schuld“ oder „Morgen hör ich auf“ die neue an Erzählbögen reichere, komplexere FernSEHserienkultur näherbringen und ihn gewöhnen könnte an weniger Handlung und dafür mehr emotionale Tiefe und vielschichtige filmische Stimmungen. Iris Berben könnte der Türöffner sein.

Exkurs: Ambivalente Frauen-Hauptfiguren im Kino
Vereinzelt gab es sie immer, die nicht völlig unsympathischen (Gift-)Mörderinnen oder heimlichen Psychopatinnen, doch wurden Filme wie „Ekel“, „Schwestern des Bösen“ und all die zahlreichen Femme-fatale-Krimis („Gilda“, „Laura“, „Die schwarze Witwe“) meist deutlich vom Genre bestimmt und besaßen wenig Realitätsnähe. Ein Autorenfilmer, der sich gern auf ambivalente Frauenfiguren einließ war Truffaut („Die Braut trug schwarz“ / „Das Geheimnis der falschen Braut“). Überhaupt waren die 1960er & 1970er Jahre im europäischen Autorenkino (u.a. Bunuel: „Belle de Jour“ / „Dieses obskure Objekt der Begierde“, Malle: „Viva Maria!“) sehr viel offener für „gefährliche“ Frauenbilder.

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ZDF

Mit Iris Berben, Peter Kurth, Moritz Bleibtreu, Katharina Schlothauer, Timur Isik, Misel Maticevic, Johannes Krisch, Bettina Hoppe, Andreas Lust, Laura de Boer, Julischka Eichel, Tinka Fürst, Zoe Moore, André Jung

Kamera: Alexander Fischerkoesen

Szenenbild: Christian Schäfer

Kostüm: Petra Kray

Schnitt: Florian Drechsler, Andrea Schriever, Thomas Stange

Musik: Stefan Will

Redaktion: Caroline von Senden, Alexandra Staib

Produktionsfirma: Moovie

Produktion: Oliver Berben, Jan Ehlert

Drehbuch: Nina Grosse – nach einer Idee von Friedrich Ani

Regie: Nina Grosse, Samira Radsi

Quote: (1): 4,55 Mio. Zuschauer (16% MA); (2): 4,04 Mio. (14,3% MA); (3): 3,49 Mio. (12,8% MA); (5): 3,37 Mio. (12,2% MA)

EA: 20.10.2018 21:45 Uhr | ZDF

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