Eine neue TV-Filmreihe hat der ORF gestartet: Die trägt das Label „Stadtkomödien“ und ist an die 2014 gestartete Reihe „Landkrimis“ angelehnt. Der SWR ist Koproduzent. Gerade erst war im Ersten schon „Herrgott für Anfänger“ zu sehen, jetzt folgt „Die Notlüge“. Der Film zeigt den ganz normalen Patchwork-Wahnsinn. TV-Moderator Hubert (Josef Hader) und Helga (Brigitte Hobmeier) leben getrennt, haben aber bereits neue Partner. Helga den (ökologisch orientierten) Wolfi (Andreas Kiendl), Hubert die (ebenfalls in der Medienbranche arbeitende) Patricia (Pia Hierzegger). Mit den gemeinsamen Kindern läuft es gut, beide Elternteile kümmern sich um sie. Helga ist von ihrem neuen Partner schwanger. Man stichelt zwar ein wenig, aber man verträgt sich. Alles könnte so schön sein. Doch Huberts Mutter Marianne (Christine Ostermayer) feiert Geburtstag und so geht es ab zum Familienfest nach Graz. Der Anlass bietet eine prima Gelegenheit, damit Hubert endlich seine Patricia der Mama vorstellen kann. Doch es kommt anders. Weil Hubert feige ist, zwar das Wort ergreift, doch im entscheidenden Moment Angst bekommt, seiner alten herzkranken Mutter („Berti, so schaust du also in Wirklichkeit aus, ich seh dich ja nur noch im Fernsehen“) die Wahrheit zu sagen. So greift er zur Notlüge. Und die anderen spielen mit. So glaubt Marianne an die heile Ehewelt ihres Buben, hält Wolfi und Patricia für ein befreundetes Paar. Das führt zu allerlei verrückten Erklärungsversuchen. Beim Festessen beginnt dann die langsame Zertrümmerung der Lüge, man trinkt, stichelt, streitet, kränkt sich. Und so drängt schließlich die Wahrheit ans Licht.
Es ist eine einfache Grundidee. Drehbuchautorin Pia Hierzegger spielt mit dem, was jeder wohl schon einmal gemacht hat und für das der Volksmund den nett und harmlos klingenden Namen Notlüge kennt. Kleine Lügen oder Halbwahrheiten gehören zum Leben. Wie sich so etwas hochschaukeln kann, das zeigt die Komödie „Die Notlüge“. Die Autorin, die auch eine der Hauptrollen spielt, treibt diese Idee in ihrem ersten Film auf die Spitze. Zu ihrer Geschichte sagt sie: „Patchwork deshalb, weil ich so viele solcher Situationen kenne und mich das Thema beschäftigt. Es hat mich interessiert, mir die verschiedenen Perspektiven anzuschauen, aber ich glaube auch, dass es hier kein Richtig und kein Falsch gibt, sondern dass jeder für sich selbst entscheiden muss.“ Pointiert-böse sind die Dialoge, der Wortwitz sitzt, auch die Details stimmen in Pia Hierzeggers erstem Filmdrehbuch. Wenn Hubert seiner Ex-Frau einen gebrauchten Kühlschrank ins Haus schleppt und deren neuer Partner Wolfi spottet: „Das ist lustig, alles, was der Hubert nicht mehr braucht, krieg ich, erst die Frau, dann den Kühlschrank, bin gespannt, was als nächstes kommt“. Oder als es darum geht, wer bei der Fahrt zur Familienfeier am Steuer sitzt und Helga sagt: „Der Wolfi hat keinen Führerschein“, und Hubert trocken entgegnet: „Sowas gibt es noch?“. Und wenn dann alle in einer großen Familienkutsche sitzen, um den Platz auf dem Beifahrersitz gerungen wird, alle angespannt und genervt sind, Wolfis Sohn Lucki schließlich kotzt und die schwangere Helga es ihm gleich tut, dann nimmt die Komödie im wahrsten Sinne des Wortes Fahrt auf.
Das Besondere an der Geschichte ist, dass die einzelnen Figuren unterschiedliche Erkenntnis-Stände über den Gang der Ereignisse haben. Das führt zu herrlichen Verwechslungen und absurden Situationen, aus denen der Film seine Dynamik bezieht. Und auch daraus, dass es um eine Familie, genauer eine Patchworkfamilie, geht, aber jeder seine ganz eigenen Absichten verfolgt und sein eigenes Süppchen kocht. So entstehen unterschiedliche Konstellationen und Lager, die ständig wechseln und für Überraschungen sorgen. Am Anfang steht eine einzige Lüge. Danach wird daraus eine Abrechnung mit verletzten Gefühlen und gekränkten Eitelkeiten. Viele kleine Lügen kommen zum Vorschein und so nimmt das Beziehungschaos seinen Lauf. Der Film erzählt die Geschichte überwiegend aus der Sicht der Patricia, die die „Leidtragende“ der Notlüge ist und einen Außenblick auf die Kernfamilie und ihre Rituale hat.
Regisseurin Marie Kreutzer, für ihren ersten Langspielfilm „Die Vaterlosen“ 2012 für den Österreichischen Filmpreis nominiert, inszeniert leicht und beschwingt, gibt dem Ensemble viel Spielraum und beweist in vielen Szenen eine tolle Beobachtungsgabe. Die Figuren-Zeichnung ist Autorin und Regisseurin durchweg geglückt – bis in die Nebenfiguren hinein: die polnische Pflegekraft, der bastelnde Nachbar. So ist „Die Notlüge“ ein Ensemblefilm einer schrecklich lügenden Familie, der mit einer superben Besetzung aufwartet. Josef Hader erinnert in seinem saloppen, mal tollpatschigen, aber präzisen und pointierten Spiel an Woody Allen. Dieser Hubert ist feige, konfliktscheu, will immer gut dastehen, alles im Griff haben, auch wenn ihm die Dinge in der Realität meist entgleiten. Pia Hierzegger (übrigens auch privat mit Josef Hader liiert) mimt die Patricia wunderbar spröde. Dazu kommen Christine Ostermeyer, Andreas Kiendl & all die anderen. Ein großes Lob an Rita Waszilovics, die diese Patchwork-Konstellation zusammengestellt und mit Bernhard Schir als Nachbar und Manuel Rubey als Bezirksvorsteher auch die Nebenrollen vortrefflich besetzt hat. Fazit: „Die Notlüge“ ist eine spritzig-witzige Komödie über den ganz normalen Notlügen-Alltagswahnsinn.