Die Ermittlung

Rainer Bock, Clemens Schick, Bernhard Schütz, Peter Weiss, RP Kahl. Aktueller denn je

Foto: BR / Hans-Joachim Pfeiffer
Foto Thomas Gehringer

Nur zwei Monate nach der Urteilsverkündung im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess wurde im Oktober 1965 „Die Ermittlung“ von Peter Weiss gleichzeitig auf 15 Theaterbühnen in Ost- und Westdeutschland uraufgeführt. Das aus Originalzitaten bestehende Drama mit dem Untertitel „Oratorium in elf Gesängen“ verfehlt auch 60 Jahre später in der gleichnamigen filmischen Version (Arte, BR, WDR / Film & Mischwaren) des Regisseurs Rolf Peter Kahl seine Wirkung als präzises Dokument und zeitlose Mahnung nicht. Kahls Inszenierung setzt insbesondere durch die Licht- und Bildgestaltung Akzente und bringt die individuellen Schicksale der ehemaligen Häftlinge durch die schauspielerischen Leistungen eines umfangreichen Ensembles stärker zur Geltung als in der literarischen Vorlage. Der Kern des Gerichtsdramas bleibt erhalten: Die brillante Weiss’sche Montage der Zeugen-Aussagen und der zynischen Ausflüchte der Angeklagten offenbart das ungeheuerliche Ausmaß einer systematischen Entmenschlichung, für das Auschwitz bis heute steht.

Der erste Zeuge, der vor Gericht aussagt, ist kein ehemaliger Häftling, sondern der Bahnhofsvorsteher (Christian Kaiser) von Auschwitz. Er räumt ein, dass es sich um einen „stark frequentierten Zielbahnhof“ gehandelt habe und dass laut Frachtbrief 60 Menschen in jedem der Vieh- und Güterwaggons transportiert worden seien. Aber sich selbst einmal ein Bild von den Zuständen an der Rampe zu machen, dazu hätte er keine Zeit gehabt, sagt er. Ob er nichts über die Vernichtung von Menschen gehört habe, will der Staatsanwalt (Clemens Schick) wissen. „Wie sollte man so was schon glauben?“, antwortet der Bahnhofsvorsteher. Wohl jede Zuschauerin und jeder Zuschauer hat dazu die Bilder im Kopf: die Gleise, die vor dem Lager-Tor enden; die Fotos von der Ankunft an der Rampe und den Selektionen der Menschen. Die Kinokoproduktion „Die Ermittlung“ von RP Kahl, die im Sommer 2024 laut Angaben der Filmförderungsanstalt FFA lediglich 7009 Besucherinnen und Besucher auf der großen Leinwand sahen, führt das Grauen vor Augen, ohne es zu zeigen.

Die ErmittlungFoto: BR / Hans-Joachim Pfeiffer
Zeugin 5: Nicolette Krebitz. Unten: Die Angeklagten sind auf einer Tribüne platziert, davor der Verteidiger (Bernhard Schütz).

Das filmische „Oratorium“, beginnend mit dem „Gesang von der Rampe“, hält sich an den Theater-Rahmen der Vorlage von Peter Weiss. Die Inszenierung ist auf einen häufig nur spärlich beleuchteten Raum konzentriert, der betont nüchtern gehalten ist. Etwas erhöht sitzt ein einzelner Richter (Rainer Bock), davor befindet sich eine im Halbkreis angeordnete Reihe von Zuschauerinnen und Zuschauern, die stumm und reglos dabeisitzen. Die 18 Angeklagten – beim ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-65) waren es zu Beginn 22, am Ende 20 – sind auf einer Tribüne platziert, davor der Verteidiger (Bernhard Schütz), ihm gegenüber der ebenfalls namenlose Staatsanwalt. Die Tischmöbel sind schlicht und funktional. Dass Richter, Verteidiger und Staatsanwalt Gerichtsroben tragen, wirkt in dieser schmucklosen Anordnung beinahe deplatziert. Einzeln, zu zweit oder dritt treten nacheinander 39 Zeuginnen und Zeugen vor die im Zentrum postierten Mikrofone auf. Einige Metallgerüste, die im Hintergrund bisweilen in unterschiedlichen Farben leuchten, sorgen dafür, dass sich der Blick nicht im dunklen Nirgendwo verliert. Überhaupt setzt das Licht vereinzelt starke Akzente, taucht den Raum in blutrote Farbe, stellt einen Zeugen in einen einzelnen Lichtkegel, leuchtet Gesichter grell von vorne an oder hüllt sie in gespenstisches Halbdunkel, weil Scheinwerfer den Zeugen von hinten anstrahlen. Die Kamera von Guido Frenzel findet immer neue Perspektiven, wechselt von der Totalen in Nahaufnahmen, schafft durch den Einsatz von Schärfen und Unschärfen eine Art Dialog zwischen Zeugen und Angeklagten. Dagegen dient die Musik lediglich als Überleitung zwischen den einzelnen „Gesängen“.

Während im Original wenige Schauspielerinnen und Schauspieler mehrere Rollen spielten, um die Allgemeingültigkeit ihrer Aussagen zu unterstreichen, gibt RP Kahl jeder einzelnen Zeugin und jedem einzelnen Zeugen Gesicht und Stimme, verkörpert durch 39 verschiedene Schauspielerinnen und Schauspieler. Warum die ehemaligen Häftlinge (und einige Mitglieder der Lagerverwaltung) auf diese Weise Individualität erhalten, aber namenlos bleiben, erschließt sich nicht ganz. Die Herausforderung, die oftmals erschütternden Aussagen sachlich vorzutragen, aber mit wenigen Mitteln den Schmerz, die Wut, die Angst oder auch die Kraft der überlebenden Häftlinge spüren zu lassen, ohne dass es „aufgesagt“ oder auf unangemessene Weise „gespielt“ wirken würde, gelingt jedoch zumeist vorzüglich. Erwähnt sei etwa Barbara Philipps Auftritt im „Gesang vom Lager“ – als ein ehemaliger Häftling, der schildert, wie jeder Einzelne im Überlebenskampf nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht war, wie das mörderische System also zum vollständigen Verlust menschlicher Würde führte. „Ich hielt mich dicht neben denen, die zu schwach waren, um ihre eigene Ration zu essen“, bekennt die Zeugin.

Die ErmittlungFoto: BR / Hans-Joachim Pfeiffer
Oben: Der ehemalige Häftlingsarzt (Tom Wlaschiha) beschreibt minutiös den Vorgang der Vergasung im Vernichtungslager. Unten: Zeugin 10 (Barbara Philipp). Wie das mörderische System zum vollständigen Verlust menschlicher Würde führte.

Eindrucksvoll auch Sabine Timoteo, die im „Gesang von der Möglichkeit des Überlebens“ eine Zeugin verkörpert, die die im Frauen-Block von Auschwitz durchgeführten, unfassbar grausamen Experimente am eigenen Leibe erlitten hatte und nun vor Gericht zu beschreiben imstande ist – allerdings erst nach einem langen Schweigen, das auch den Betrachter in dieser wortreichen Aufführung einmal zum Innehalten nötigt. Unvermeidlicherweise kommen die Schrecken detailliert zur Sprache, die sadistischen Verhör-Methoden eines Wilhelm Boger, die Erschießungen an der „schwarzen Wand“, das Verhungernlassen in überfüllten Gefängniszellen – bis schließlich Tom Wlaschiha im letzten Kapitel, dem „Gesang von den Feueröfen“, als ehemaliger Häftlingsarzt im Sonderkommando minutiös den Vorgang der Vergasung im Vernichtungslager Birkenau beschreibt. Darüber hinaus werden aber auch die bürokratische Organisation, das System der Profitmaximierung durch Zwangsarbeit und die Mitschuld von Wirtschaftsunternehmen beim Namen genannt. Weiss legte mit seiner Text-Montage nicht zuletzt den Zynismus und die vollkommen fehlende Einsicht oder Reue der Angeklagten bloß. Sie leugnen und lügen, reden ihre Beteiligung klein oder berufen sich auf den Befehlsnotstand, stellen sich auch gerne mal als Opfer dar. Und während manche Häftlinge klingen, als müssten sie sich dafür entschuldigen, überlebt zu haben, schmunzeln die alten Nazis auf der Tribüne, wenn Robert Mulka (Wilfried Hochholdinger), der Adjutant des Lagerkommandanten, den brutalen Alltag schönzureden versucht: „Es war ein Straflager, da waren die Leute nicht zur Erholung.“

Die ErmittlungFoto: BR / Hans-Joachim Pfeiffer
Sabine Timoteo als Zeugin 17. Ein langes Schweigen, das auch den Betrachter des wortreichen Stücks zum Innehalten nötigt.

Auf beklemmende Weise erscheint das von RP Kahl neu interpretierte Drama „Die Ermittlung“ des deutsch-schwedischen Schriftstellers, Malers und Filmemachers Peter Weiss, der selbst als Kind einer jüdischen Familie vor dem Nationalsozialismus aus Deutschland fliehen musste, aktueller denn je. Der Aufstieg rechtspopulistischer, nationalistischer und rechtsextremer Kräfte ist mit Angriffen auf Gedenkstätten und einer Verächtlichmachung der Erinnerungskultur an die Zeit der Nazi-Diktatur verbunden. Der Versuch, Auschwitz mit künstlerischen Mitteln begreiflich zu machen, bleibt somit erst recht eine wichtige Aufgabe. „Die Ermittlung“ bietet dazu nicht nur als Horror-Show, sondern auf vielfältige Weise Anknüpfungspunkte und Anschauungsmaterial. „Wenn wir mit Menschen, die nicht im Lager gewesen sind, heute über unsere Erfahrungen sprechen, ergibt sich für diese Menschen immer etwas Unvorstellbares“, sagt ein ehemaliger, der Widerstandsbewegung im KZ Auschwitz angehörender Häftling (Arno Frisch). „Und doch sind es die gleichen Menschen, wie sie dort Häftlinge und Bewacher waren. (…) Wir müssen die erhabene Haltung fallen lassen, dass uns diese Lagerwelt unverständlich ist. Wir kannten alle die Gesellschaft, aus der das Regime hervorgegangen ist, das solche Lager erzeugen konnte. Die Ordnung, die hier galt, war uns in ihrer Anlage vertraut.“

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Mit Rainer Bock, Clemens Schick, Bernhard Schütz, Arno Frisch, Sabine Timoteo, Barbara Philipp, Tom Wlaschiha, Christiane Paul, Nicolette Krebitz, Christian Kaiser, Marek Harloff, André Szymanski, Peter Lohmeyer, André Hennicke, Karl Markovics, Peter Schneider, Robert Hunger-Bühler, Andreas Pietschmann, Wilfried Hochholdinger, Thomas Dehler, Nico Ehrenteit, Michael Rotschopf, Tristan Seith, Ronald Kukulies, Lasse Myhr

Kamera: Guido Frenzel

Szenenbild: Nina Peller

Kostüm: Tina Klömpken

Schnitt: Anne Fabini, Peter R. Adam, Christoph Strothjohann

Licht: Peer Langemak

Casting: Marc Schötteldreier

Musik: Matti Gajek

Redaktion: Carlos Gerstenhauer, Cornelia Ackers, Götz Vogt, Claudia Tronnier

Produktionsfirma: Film & Mischwaren

Produktion: Alexander van Dülmen

Drehbuch: Peter Weiss (literarische Vorlage)

Regie: Rolf Peter Kahl

EA: 27.01.2025 10:00 Uhr | ARD-Mediathek

weitere EA: 27.01.2025 21.45 Uhr | Arte (Kinofassung)

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