Die andere Heimat

Edgar Reitz, Roll, Jan Dieter Schneider. Lebenserfahrungen des 19. Jahrhunderts

Foto: Arte / Edgar Reitz Filmproduktion
Foto Sophie Charlotte Rieger

Mit dem Kinofilm „Die andere Heimat“ fand 2013 der „Heimat“-Zyklus von Edgar Reitz seinen Abschluss. Im 19. Jahrhundert ist es auch die Armut, die Menschen nach einer neuen Heimat suchen lässt. Im Film zieht es den jungen Jakob aus dem Hunsrück ins ferne Brasilien. Bei dieser „Taugenichts“-verdächtigen Figur ist es auch die romantische Faszination des Fremden, die sie antreibt. Der Film ist in Schwarzweiß gedreht, wodurch er eine „dokumentarische“ Aura bekommt; andererseits aber wirkt Vieles im Film auch surreal bis hin zu Anleihen beim expressionistischen Film. Am spannendsten an diesem Arthausdrama sind letztlich aber die Weltsicht und die Wahnehmung des 19. Jahrhunderts, wovon der Film viel vermittelt.

Der Begriff Heimat ist eines der abstraktesten, den wir in der deutschen Sprache haben. Auf den ersten Blick wirkt er ganz konkret, aber je länger wir darüber nachsinnen, desto mehr Bedeutungen offenbaren sich und desto dehnbarer scheint dieser Begriff zu sein. Filmemacher Edgar Reitz hat sich seit den 1980er Jahren um „Heimat“ verdient gemacht, er hat den Deutschen diesen durch den Nationalsozialismus belasteten Begriff bereits in drei großen TV-Werken zurückgegeben. Mit „Die andere Heimat“ knüpfte er nun an dieses Oeuvre an.

Interessanterweise steht in dieser Kino-Koproduktion gerade die Abwesenheit eines Heimatgefühls im Mittelpunkt, denn den Helden der Geschichte zieht es in die Ferne. Mitte des 19. Jahrhunderts leiden die Bewohner des Hunsrück unter Armut und Hunger. Aber es ist weniger die Flucht vor der Not, die Jakob (Jan Dieter Schneider) antreibt, sondern der Sog des Fremden. Statt seinem Vater in der Schmiede zur Hand zu gehen, steckt er seine Nase ständig in die Bücher, mit der Absicht, die Stammessprachen Südamerikas zu erlernen.

Die andere HeimatFoto: Arte / Edgar Reitz Filmproduktion
Brautwerbung: Jakob (Jan Dieter Schneider) verteilt Most an seine heimliche Liebe Jettchen (Antonia Bill, Mitte) und deren Freundin Florinchen (Philine Lembeck).

Der Rückzug in eine Traumwelt stößt bei Jakobs Familie auf Unverständnis. Schließlich sind die Zeiten hart und nur mit gegenseitiger Unterstützung können alle lebend durch den Winter kommen. In seiner naiven Abkehr von diesen weltlichen Nöten erinnert Jakob an Eichendorffs Taugenichts. Und wie auch jener droht Jakob uns mit seiner Träumerei und dem daraus resultierenden Schmarotzertum zuweilen unsympathisch zu werden. Doch es ist nicht nur Jakobs Unfähigkeit, von der Planung in die Aktion überzugehen, die verhindert, dass seine Träume Realität werden. Auch äußere Umstände wirken sich stets negativ auf den Werdegang des Helden aus. Nach zwei von den knapp vier Stunden Länge erreicht „Die andere Heimat“ einen Punkt, an dem sich die Schlinge der Tragik etwas zu eng um den Helden schließt.

Es ist eine Gratwanderung, auf der sich Edgar Reitz hier befindet. Entsteht die Dramatik aus der Tatenlosigkeit des Helden, verliert der Zuschauer den Kontakt zur Hauptfigur, deren Handlungen er immer schwerer nachvollziehen kann. Sind es aber die äußeren Umstände, die Jakob sein persönliches Glück verwehren, wird „Die andere Heimat“ zum Trauerspiel. Die meiste Zeit über kann Reitz seine Geschichte nicht nur an diesen beiden Abgründen vorbei manövrieren, sondern aus der „Gefahrensituation“ auch den besonderen Charme seines Konzepts generieren. Jakob ist gerade deshalb eine so interessante Figur, weil wir ihn nicht vollkommen ins Herz schließen, sondern seine Motive immer wieder hinterfragen. Auf diese Weise werden wir seiner auch nach 240 Minuten Film noch nicht überdrüssig.

Die andere HeimatFoto: Arte / Edgar Reitz Filmproduktion
Schwarzweiß mit Farbsprengseln & Marita Breuer, das Gesicht von „Heimat“ (1984)

Während sich Edgar Reitz große Mühe gibt, die Epoche der 1840er Jahre möglichst akkurat zum Leben zu erwecken, ist seine Geschichte ganz offensichtlich ein wohl kalkuliertes Drama. Einerseits scheint es Reitz vor allem um eine historische Momentaufnahme zu gehen, die in der detailgetreuen Ausstattung am deutlichsten ihren Ausdruck findet, andererseits strotzt seine Geschichte nur so von konstruierter, manchmal gar vorhersehbarer Tragik. Auch die märchenhafte oder zumindest surreale Komponente des Konzepts unterscheidet „Die andere Heimat“ von einer naturalistischen Darstellung historischer Ereignisse.

Auch optisch zeigt sich dieser Widerspruch. So arbeitet Edgar Reitz einerseits mit Schwarz-Weiß-Fotografie und viel Tiefenschärfe (was dokumentarischen Charakter konnotiert), zum anderen erzeugen besonders zu Beginn die schiefen Winkel und langen Kamerafahrten ein Gefühl von Chaos, Enge oder gar Unheimlichkeit, die an das expressionistische deutsche Kino der 1920er Jahre erinnern. Als märchenhaftes Gegenstück fungieren Farbtupfer, mit denen Edgar Reitz mehrfach einzelne Objekte seiner Geschichte hervorhebt: ein rotglühendes Hufeisen, eine blau blühende Blumenwiese oder ein goldener Taler. Dass diese Elemente plötzlich farbig statt schwarzweiß aufleuchten, reißt uns aus der realistischen Darstellung der Filmwelt heraus und führt uns selbstredend die Künstlichkeit des Kinoerlebnisses vor Augen.

Die andere HeimatFoto: Arte / Edgar Reitz Filmproduktion
Gustav (Scheidt) und Jakob (Jan Dieter Schneider) besuchen ihre Schwester Lena (Mélanie Fouché), die vom Vater verstoßen wurde, weil sie einen Katholiken liebt.

Die Distanz, die zwischen zwei Dörfern schon so groß ist, dass Verwandte sich über Jahre nicht begegnen, macht die Reise, die die Auswanderer nach Brasilien zurücklegen, unüberschaubar. Wie ist die Welt doch klein heute, wo wir spontan ein Flugzeug besteigen können, um auf die andere Seite des Planeten zu gelangen. Wie unvorstellbar ist für uns heute das Wagnis der deutschen Auswanderer Mitte des 19. Jahrhunderts. Wie unvorstellbar ist auch der Mangel an Wissen. Bedienen wir heute in Sekundenschnelle Wikipedia, so können die Bauern in „Die andere Heimat“ meist nicht einmal lesen. Begriffe wie „Tropen“ oder „Urwald“ sind ihnen fremd oder lösen nur schwammige Assoziationen aus. Wissen als solches hat geringen Wert in einer Zeit, in der die Menschen um jeden Bissen Brot bangen. Es sind Beobachtungen wie diese, die „Die andere Heimat“ so sehenswert machen. Die großzügige Laufzeit hilft uns, voll und ganz in eine andere Epoche einzutauchen und die Bilder, in denen wir so viel entdecken können, verhindern, dass uns die ausgedehnte Erzählung über Generationenkonflikte, zerstrittene Brüder und eine unglückliche Liebe gar zu lang erscheint.

Aber wo ist sie denn nun, diese „andere Heimat“? Meint Heimat den Hunsrück, das ferne Brasilien, die Familie oder gar die persönliche Leidenschaft? Verweist das Wort „anders“ im Filmtitel auf die Distanz, die Exotik oder die Entfremdung von Altbekanntem? Mit dem Film „Die andere Heimat“ verhält es vermutlich ähnlich wie mit dem Heimat-Begriff selbst: Je genauer wir hinsehen, desto mehr Bedeutungen werden offenbar. (Text-Stand: 3.10.2013)

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Kinofilm

ARD Degeto, Arte, BR, WDR

Mit Jan Dieter Schneider, Antonia Bill, Maximilian Scheidt, Marita Breuer, Rüdiger Kriese, Philine Lembeck, Mélanie Fouché, Eva Zeidler, Reinhard Paulus, Barbara Philipp, Werner Herzog

Kamera: Gernot Roll

Szenenbild: Anton Gerg

Schnitt: Uwe Klimmeck

Musik: Michael Riessler

Produktionsfirma: Edgar Reitz Filmproduktion

Drehbuch: Edgar Reitz, Gert Heidenreich

Regie: Edgar Reitz

EA: 26.08.2015 20:15 Uhr | Arte

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