Wettrüsten, Friedensbewegung & Atomkrieg-Paranoia
1983, der Kalte Krieg wird immer heißer. US-Präsident Ronald Reagan beschimpft die Sowjetunion als „Reich des Bösen“, die Bundesrepublik rüstet mit Pershing-II-Raketen auf, und die NATO probt auf westdeutschem Boden den nuklearen Ernstfall. In der deutschen Bevölkerung diesseits und jenseits der Mauer herrscht Unmut über das allgemeine Wettrüsten. Die Bonner Republik sieht der größten deutschen Friedensdemonstration entgegen, die von breiten Teilen der Bevölkerung getragen wird („Petting statt Pershing“). In der DDR sind es nur ein paar wenige, die sich trauen, pazifistisch Flagge zu zeigen. Und die Machthaber im Ostblock sind von Kriegsparanoia befallen. Die Nerven in Moskau und Ost-Berlin liegen blank. Das herbstliche NATO-Manöver erkennt man dort nicht als Übung, sondern man sieht in ihm die Vorbereitung auf den Atomkrieg – sprich: den nuklearen Erstschlag der USA.
Ein blauäugiger NVA-Soldat soll die DDR retten
Die DDR-Spionageabteilung wittert ihre große Stunde. Ein Mann muss her, der den bundesdeutschen Militärs und ihren NATO-Verbündeten auf die Finger schaut. Martin Rauch (Jonas Nay), ein NVA-Soldat mit vorbildlicher Kaderakte, bringt alle Voraussetzungen mit, um die Identität des Ordonanzoffiziers Moritz Stamm in einer Bundeswehrkaserne in der Eifel anzunehmen. Seine Tante Lenore (Maria Schrader), eine hochrangige HVA-Mitarbeiterin, hatte die Idee; auf den Weg gebracht wird die Operation von ihrem Vorgesetzten Schweppenstette (Sylvester Groth). Seinem Land dienen will Martin schon, in die BRD gehen will er nicht; also muss man ihn zu seiner Mission „im Interesse der nationalen Sicherheit“ zwingen: Und so wacht der harmlose Ossi im roten Puma-T-Shirt irgendwann im Frühjahr 1983 im Westen auf, bekommt einen Spionage-Crashkurs von einem in Bonn lehrenden Juraprofessor im Dienste der HVA (Alexander Beyer), muss das Vertrauen von General Edel (Ulrich Noethen) gewinnen und gleich zum Einstand brisante Dokumente in Sachen Pershing II beschaffen. Sein zweiter Auftrag ist ungleich gefährlicher. Während einer Sicherheitskonferenz in Bonn muss er vom NATO-Chefanalysten (Jens Albinus) den NATO-Sicherheitsbericht aus seinem Privatsafe stehlen; der Bericht soll der DDR darüber Aufschluss geben, wie ernst es der Westen mit einem atomarem Angriff meint. Vollen Körpereinsatz erfordert die nächste Aufgabe: Bei einer NATO-Konferenz in Brüssel kommt neben der obligatorischen Verwanzung einer wichtiger „Quelle“ auch noch ein Romeo-Job mit einer NATO-Sekretärin (Nikola Kastner) hinzu, der allerdings romantisch eskaliert und später höchst tragisch endet.
Foto: RTL / Nik Konietzny
Liebe und Freundschaft zwischen Ost und West
Auch privat findet „Moritz“ Anschluss im Westen. Mit Alex (Ludwig Trepte), dem friedensbewegten Sohn des Generals und schwarzen Schaf der Familie, freundet er sich in der Kaserne an und dessen Schwester Yvonne (Lisa Tomaschewsky), die als Bhagwan-Kommunardin nicht minder gegen den Vater opponiert, lässt ihn bald seine Freundin Annett (Sonja Gerhardt) in Kleinmachnow vergessen. Dennoch will Martin, nachdem er seiner Mutter (Carina Wiese) in Ost-Berlin eine Niere gespendet hat, nicht mehr zurück in den Westen. Seine Freundin ist schwanger. Und die Mutter auf die Transplantationsliste ganz nach oben zu setzen, ist nun kein Druckmittel mehr. Außerdem hat der Spionageauftrag den blauäugigen Genossen erstmals mit der dunklen Seite der DDR in Berührung gebracht. Aber auch Martin selbst musste – um zu überleben – Schlimmes tun: er ist zum Mörder geworden. Dass ausgerechnet seine Freundin ihn dazu ermuntert, weiterzumachen, wundert ihn.
Spannung zwischen Thriller, Drama & Zeitgeist
„Deutschland 83“ kommt schnell zur Sache. Jede Situation gibt den Figuren ein Stück weit Konturen, treibt aber in erster Linie die Handlung dynamisch voran. In der Aktion lernen wir denn auch den Helden kennen, und wenn die Handlung spannend wird, treibt das den von Jonas Nay („Homevideo“) gespielten Protagonisten geradezu in die Arme des Zuschauers. Dieser Martin alias „Moritz“ ist ein ganz normaler NVA-Soldat, kein ideologischer Hardliner, sondern ein grüner Junge, entsprechend fiebern wir mit ihm, wenn er es als HVA-Agent in der Höhle des Löwen einen Auftrag erfüllen muss. Gleich in der Auftaktfolge „Quantum Jump“ macht er einen Fehler und wird während eines Telefonats von der Schwägerin des Generals belauscht. Auch durch die Romeo-Affäre mit der NATO-Sekretärin droht in Folge 4, „Northern Wedding“, seine Deckung aufzufliegen. Die Serie setzt auf spannende Genre-Unterhaltung zwischen Thriller und Drama mit gelegentlichen Action-Einlagen, sie ist hoch emotional und schreckt auch vor melodramatischen Momenten nicht zurück.
Foto: RTL / Laura Deschner
Soundtrack von „Deutschland 83“:
New Order („Blue Monday“), City („Am Fenster“), Nena („99 Luftballons“), Peter Schilling („Major Tom“), Ideal („Keine Heimat“), 10CC („I’m not in Love“), Joachim Witt („Goldener Reiter“), Blondie („Call me“), Cure („Boys don’t cry“), David Bowie („Modern Love“ / „China Girl“), Duran Duran („Hungry like a Wolf“), Stevie Wonder („Master Blaster“), Bill Withers („Two of us“), Police („Wrapped around your finger“), Fischer Z („Cruise Missiles“ / „Berlin“), Tears for Fears („Mad World“), Phil Collins („In The Air tonight“), Grace Jones („Libertango“), Marvin Gaye („Sexual Healing“), Fehlfarben („Es geht voran“), ZZtop („Gimme all your Loving“), Udo Lindenberg („Sonderzug nach Pankow“ / „Ich sind Rocker“), Greg Kihn Band („Jeopardy“), Billy Idol („White Wedding“), Berluc („No Bomb“), Queen & David Bowie („Under Pressure“)Die Kritik basiert auf der Sichtung aller acht Folgen – gesehen an einem Tag.
Der postideologische Blick sorgt für die Goutierbarkeit
Die amerikanische Head-Autorin Anna Winger geht mit dem postideologischen Blick an das letzte Jahrzehnt des Kalten Krieges. Zwar sind einige Ost-Deutsche geradezu paranoid, was ihre ideologische Verbissenheit angeht, aber der private autoritäre Stil des westdeutschen Bundeswehrgenerals ist genauso von übermäßigem Starrsinn gezeichnet. Die System-Repräsentanten sind auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs allenfalls dramaturgische Gegenspieler, in denen sich der Wahnwitz des Kalten Kriegs widerspiegeln. Auch wenn der hochrangige HVA-Mann Schweppenstette den NATO-Sicherheitsbericht dahingehend frisiert, dass er nicht das Prinzip der „glaubhaften Abschreckung“ aus ihm herausliest, sondern „ein klassisches Erstschlagsszenario“ in den Bericht hineininterpretiert, macht das aus ihm keinen klassischen Filmbösewicht. Dieser Mann, im Übrigen privat eine zutiefst tragische (und gelegentlich auch menschlich agierende) Figur, handelt in der Überzeugung, das Richtige für sein Land zu tun. Auch wenn er damit den Weg freimacht für einen möglichen Atomkrieg.
Foto: RTL / Laura Deschner
Politik kommt vor Pop, Bundeswehruniform vor Föhnfrisur
Dieser RTL-Serie, über die Spiegel online titelte „Homeland DDR“, gelingt es, das ganz Große, die Weltpolitik der 1980er Jahre, mit dem ganz Kleinen, einem Einzelschicksal, zu einer ungemein spannenden und weitgehend glaubwürdigen Geschichte zu verbinden, den Kalten Krieg also auf einen überschaubaren narrativen Mikrokosmos herunterzubrechen. Das großartige Intro bringt es auf ein prägnantes Bild: Die Zeitgeschichte wird zum Rhythmus von New Orders „Blue Monday“ auf den nackten, schmalen Körper des Helden projiziert. Hinzu kommt das geschickte Einflechten gesellschaftlicher Phänomene, die in jenem Jahrzehnt von sich reden machten: die Umwelt- und Friedensbewegung findet ihren Niederschlag in der Geschichte, Bhagwan-Anhänger gehören zu den Protagonisten, auch spielt Homosexualität eine nicht unwichtige Rolle für die Zeichnung einiger Charaktere, aber nicht nur, weil auch AIDS ein Thema der Achtziger ist. Besonders in den ersten Folgen dient die Popmusik jenes Neonlicht geschwängerten Jahrzehnts zur stimmungsvollen Ausstaffierung des zwar überaus farbintensiven Looks, der in der Serie dennoch nicht so cool rüberkommt wie es das Image dieser Ära gemeinhin will. Das liegt sicherlich vor allem an der Dominanz der politischen, unglamourösen Szenarien wie Bundeswehr, DDR und Friedensbewegung, die deutlich die Oberhand behalten gegenüber dem vordergründigen Zeitgeist. Populäre Fußnoten gibt es dennoch – so Nenas Welthit „99 Luftballons“, der hüben wie drüben ob seiner Message bejubelt wurde, hübsch nostalgisch die Reminiszenz an den Walkman, oder auch Lindenbergs legendäres Konzert im Palast der Republik, das sogar in die Handlung integriert wurde.
Top-Serie – Erwartungen dennoch nicht zu hoch schrauben!
„Deutschland 83“ ist eine der wenigen deutschen Serien, die im US-Fernsehen gezeigt wurden (noch vor der deutschen Premiere). Dass die Serie bis in die kleinsten Rollen gut und stimmig besetzt und klar narrativ strukturiert ist, dass sie immer wieder Möglichkeiten für den Seiteneinstieg in die acht Folgen bietet und dass sie nicht nur mit amerikanischen Serien mithalten kann, sondern für deutsche Zuschauer gegenüber einer US-Serie einen historisch-thematischen Mehrwert besitzt, das alles sollte sie eigentlich zu einem großen Erfolg machen. Übersteigerte Erwartungen sind dennoch nicht angebracht. Schließlich hat RTL in den letzten zehn Jahren kaum etwas Bemerkenswertes im Bereich der deutschen Fiktion hervorgebracht und auch für sein Image als innovativer Serien-Sender mit Grimme-gekrönten Produktionen wie „Balko“, „Bruder Esel“, „Ritas Welt“ oder „Nikola“, ein Image, das auf die 1990er Jahre zurückgeht, hat der „Cobra-11“-Sender schon lange nichts mehr getan. Vermutet der nicht übermäßig informierte Normalzuschauer also überhaupt so ein Programm bei RTL?! Fraglich ist auch, ob der Ausstrahlungsmodus, über vier Wochen mit vier Doppelfolgen, überhaupt den Sehgewohnheiten der Serien-Klientel und dem Format dieser horizontalen Serie entspricht. Die formal vergleichbare, filmisch und thematisch allerdings unvergleichlich schwächere ZDF-Serie „Blochin“ präsentierte der Sender an drei aufeinanderfolgenden Tagen und hatte zwischen drei und vier Millionen Zuschauern. Dass RTL Interactive viel zu wenig getan hat, um diese Ausnahmeserie digital – mit Webauftritt und Social-Networks-Aktivitäten – an die mittlerweile mit dem Fernsehen fremdelnde Zielgruppe heranzuführen, wie der Branchendienst DWDL analysierte, stimmt auch nicht unbedingt optimistisch.