Karl Kress, ein Patriarch alter Schule, will seine privaten und geschäftlichen Angelegenheiten regeln. Was keiner weiß: Der Bauunternehmer ist krank. Noch einmal will er mit seinem Sohn Mark, dem schwarzen Schaf der Familie, und seinem Schwiegersohn Gregor, der die in eine Affäre verstrickte Kress AG leitet, in den Alpen klettern. Sein Ziel: der Gipfel der Wildspitze, dem höchsten Berg Nordtirols. Hier ist vor 20 Jahren der Erstgeborene der Familie bei einer Bergtour der Brüder ums Leben gekommen. Die stillen Vorwürfe des Seniors haben Mark vom Vater entfremdet und ihn seine eigenen Wege gehen lassen, einserseits – andererseits ist er finanziell noch immer von seinem Vater abhängig. Die Situation vor der Besteigung des Ötztal-Riesen ist angespannt. Was will der Vater? Ein letztes Tribunal? Zum ersten Mal reden über den tragischen Unfall? Einen Abschied unter Männern? Die Turbulenzen in der Firma, der Korruptionsverdacht, der auch den korrupten Ministerialdirektor Gruber und Kress-Tochter Verena in die ihr verhassten Berge aufbrechen lässt, verkomplizieren die Situation.
Foto: ZDF / Hendrik Heiden
Der Vater ist der Macher, der Strippenzieher, der selbst noch zu Beginn seiner Alzheimer-Erkrankung die Geschicke der Familie herrisch bestimmt – notfalls mit Schlägen. Alle kuschen vor ihm. Nur der einst im Berg verschollene Erstgeborene begegnete dem Vater auf Augenhöhe. „Der Tote im Eis“ erzählt von der ewigen Blutsbande und der großen Bürde, die Familie bedeuten kann. Niki Stein verpackte das Familiendrama in ein zweistündiges Kammerspiel zwischen Berghütte und Steilwand, zwischen Drehbuch-Tricks und telegener Alpenkulisse. Die Zwänge eines überlangen TV-Events tun dem Film nicht gut. Da sind zu viele Handlungsstränge im Spiel, da werden eine ganze Reihe Schicksalsschläge bemüht, zu viele Geheimnisse der Vergangenheit gelüftet (zum Beispiel ein Vergewaltigungstrauma der Schwester) und mit dem Heute tragisch kurzgeschlossen. Die Gespenster von damals sind wieder lebendig. Archaische Konflikte und (melo)dramatische Momente allüberall.
Die Handlung ist groß angelegt, mit langem Atem erzählt, die Alpen sind hoch, das Wetter eine Naturgewalt, der Berg ruft laut und droht dem Menschen, die Musik dräut entsprechend raumfüllend. Von Angesicht zu Angesicht wirken die Probleme sehr viel banaler & realer, werden auf Menschengröße gestutzt, heruntergebrochen auf das physisch Kreatürliche: Auf den Berghütten wird die Dramaturgie angenehm klein; die Enge nimmt zu, man belauert sich, nur schwer kann man einander ausweichen. Man liebt und schlägt sich. Familie auf 80qm, da gilt das Sprichwort: „Freunde kann man sich aussuchen, Familie hat man“. Das alles hat sich Stein schon gut (aus)gedacht. Doch so richtig will der Funke bei diesem Bergdrama mit Familienanbindung nicht überspringen. Zu viel Kleinklein, zu zerfasert die Geschichte, bei der für jeden Unterplot noch eine Figur ins Feld – sprich: auf den Berg – ziehen muss.
Foto: ZDF / Hendrik Heiden
Einmal mehr erreicht der Autor Niki Stein nicht die Qualität des Regisseurs Niki Stein. Ob der beengte Nahbereich der Berghütten oder die bemerkenswerte eineinhalbminütige Plansequenz, in der Bruder und Schwager aufeinandertreffen und sich mit dem Helikopter in Richtung Berg auf den Weg machen – der Regisseur Stein drängt mit seinem Kameramann Arthur W. Ahrweiler stets auf den Eindruck von ästhetisch-dramatischer Geschlossenheit. Gut ausgewählt und geführt auch die Schauspieler. Manfred Zapatka als der Übervater, nie zu laut und doch mit einer Ahnung davon, was für ein Ekel dieser wohl gewesen sein mag. Aber auch heute noch kanzelt er den Versagersohn vor dessen frisch Angetrauter demütigend ab. Wiesinger, Sadler und besonders Szyszkowitz spielen reichlich vergangenen Subtext mit – ohne dabei zu deutlich oder zu trivial zu werden. Einen Tick zu viel, dramaturgisch ohnehin eher eine Verlegenheitslösung, ist der Erpressungs-Vergewaltigungs-Nebenplot, zu dem Ulrich Tukur zwar eine an sich bemerkenswerte Performance beisteuert, ein Erzählstrang, der sich allerdings reichlich banal und vom Zufall getragen auflöst. Die Logistik der Geschichte ist insgesamt ein bisschen zu sehr abhängig von den kleinen Dingen des Alltags. Ohne schlechtes Wetter, ohne Handy bzw. ohne den Zusammenbruch des Netzes gäbe es die Handlung von „Der Tote im Eis“ in dieser Form nicht. Der Film will Hintergründiges erzählen, bekommt so aber etwas Vordergründiges. Neugierig machen die Geschichten, die Charaktere und Konstellationen dennoch – der Film ist nur nicht der große Wurf. (Text-Stand: 24.4.2013)