Der Titel lässt es nicht vermuten, aber „Der Polizist, der Mord und das Kind“ ist kein Krimi, sondern ein Drama von der Sorte, die einen an das Gute im Menschen glauben lässt. Zumal es den Münchener Polizisten, der sich so einfühlsam und konsequent um ein Kind kümmert, dessen Mutter vom Vater getötet wurde, tatsächlich gibt. Die Geschichte von Carlos Benede und seines späteren Adoptivsohns Alexander – beide sind hier mit ihren Klarnamen genannt – ist derart stark und berührend, dass eine fiktionale Inszenierung nichts hinzuzufügen braucht und jede aufdringliche Gefühligkeit störend wäre. Bei Drehbuchautorin Dorothee Schön und Regisseur Johannes Fabrick, die schon bei „Der letzte schöne Tag“ zusammenarbeiteten, einem der besten Familiendramen der letzten Jahre, ist dieser Stoff in den besten Händen.
Foto: ZDF / Barbara Bauriedl
Alles wie im wirklichen Leben – bis auf Hautfarbe und Akzent
Es ist eine Geschichte, der man an der einen oder anderen Stelle nur schwer Glauben schenken mag. Die zu schön zu sein scheint, um wahr sein zu können. Doch Schön und Fabrick haben sich in fast allen wesentlichen Fragen strikt an die Realität gehalten, auch in scheinbar nebensächlichen Details wie der Tee-Schwärmerei des Jugendamt-Mitarbeiters oder der Tätowierung an Alexanders Oberarm. Sogar Tapps, der Hund, ist keine TV-Erfindung, um den Niedlichkeitsfaktor zu erhöhen. Überprüfen lässt sich das zum Beispiel anhand einer BR/WDR-Dokumentation („Der Kommissar und seine Söhne“) aus dem Jahr 2015, die bei Youtube und noch bis Ende Januar 2018 auch in der ARD-Mediathek zu finden ist. Die Quelle für Dorothee Schöns Drehbuch ist aber Carlos Benedes Autobiografie „Kommissar mit Herz“. Eine bedeutsame Differenz ergibt sich nur durch die Besetzung. Nichts gegen Matthias Koeberlin, doch der multikulturelle Hintergrund des dunkelhäutigen Carlos Benede, der der Sohn einer Spanierin und eines unbekannten Vaters ist, wird in der Verfilmung leider unsichtbar. Und sein bayerischer Akzent unhörbar. An der Essenz ändert das freilich nichts.
Der Mord an der Mutter aus der Perspektive des Kindes
Der Film beginnt mit dem Verbrechen, weitgehend geschildert aus der Perspektive des Kindes. Der elfjährige Alexander wird von seiner Mutter am Abend ins Bett gebracht und bekommt noch mit, dass sie verängstigt bei der Polizei anruft. Die Ordnungshüter postieren sich vor dem Eingang des Wohnblocks, doch der gewalttätige Ehemann gelangt unbemerkt zu Fuß durch die Tiefgarage ins Haus. Als Alexander vom Lärm der Polizei geweckt wird, sieht er seine Mutter erstochen auf dem Küchenboden liegen. Dass Carlos Benede vom Opferschutzkommissariat wie gewöhnlich die Uniform des „Schutzmanns“ anzieht, um bei der ersten Begegnung mit dem traumatisierten Kind Vertrauen zu schaffen, funktioniert in Alexanders Fall nicht so gut. Denn auf die Polizei ist der Junge nicht gut zu sprechen: „Ich rede nicht mit denen. Die haben versprochen, die Mama zu beschützen.“ Eine Fahrt mit Blaulicht zum Eiscafé bringt die erste Annäherung zwischen Carlos und Alexander.
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Prägend für den Film: der Kinder-Darsteller Joshio Marlon
Neben der unaufgeregten Erzählweise und den aufs Wesentliche konzentrierten Dialogen beeindruckt vor allem Joshio Marlon, der Darsteller des jungen Alexander, der schon zahlreiche Rollen in Kino („En mai, fais ce qu’il te plait“) und Fernsehen („Homeland“, „Dark“) in seiner Vita vorzuweisen hat. Bemerkenswert, wie präzise der während der Dreharbeiten Zwölfjährige die Wut, den Trotz und insbesondere die etwas unwirklich erscheinende Entschlossenheit seiner Figur spielt. Alexander ist ein ernsthafter, frühreifer Junge, der trotz der erlebten Tragödie genau weiß, was er will. Er will unbedingt seinen Vater Veljko (Ilir Rexhepi) in der U-Haft besuchen und ihn zur Rede stellen. Er möchte getauft werden, was sein Vater bisher abgelehnt hatte. Und er ist fest entschlossen, im Prozess gegen ihn auszusagen. Auch im Verhältnis zu Carlos ist er die treibende Kraft. Trotzdem bleibt das verletzte, verletzliche Kind mit seiner Sehnsucht nach Nähe in Joshio Marlons Spiel immer spürbar. Und Alexanders fußballerisches Talent bekommt der junge Darsteller ebenfalls ganz gut hin. Da hat das Casting ganze Arbeit geleistet. Dass ein Kinder-Darsteller einen Film derart überzeugend prägen kann, ist aber sicher auch ein Verdienst einer sensiblen Regie.
Foto: ZDF / Barbara Bauriedl
Ein katholisches Waisenheim, in dem Kinder respektvoll erzogen werden
Nicht zu unterschätzen ist zugleich die zurückhaltende Art, wie Matthias Koeberlin die Rolle des Opferschutz-Kommissars interpretiert. Damit schafft er Spiel-Raum für die Kinder-Darsteller und vermeidet eine dick aufgetragene Heroisierung seiner Figur. Und obwohl sich die Beziehung von Carlos und Alexander allmählich in eine Art Vater-Sohn-Verhältnis wandelt, wird daraus kein zuckersüßes Melodram. Buch und Regie entwickeln ihr Plädoyer für einen liebevollen und geduldigen Umgang mit traumatisierten oder „schwierigen“ Jugendlichen ganz aus der Geschichte heraus. Die konterkariert in manchen Aspekten zudem die gängigen Erwartungen: Etwa in der Darstellung eines von katholischen Nonnen geführten Waisenheims, in dem die Kinder nicht misshandelt, sondern respektvoll erzogen werden. Carlos selbst, von seiner Mutter verlassen, ist dort ohne Eltern aufgewachsen. In seiner Lehrerin Evi (Jutta Speidel) fand er eine Art Ersatzmutter, die er weiterhin um Rat fragt und nun auch mit Alexander besucht. Das alles wird ganz unprätentiös erzählt (nur die Musik stört manchmal ein bisschen). Erfreulich ist ohnehin, dass hier eine männliche Figur im Mittelpunkt steht, die verständnisvoll und sensibel ist und nicht gleichzeitig als Schluffi oder realitätsfremder „Gutmensch“ denunziert werden kann. Carlos ist klar und stets kontrolliert, nur ein Mal fährt er aus der Haut: Als ihm bei der Anhörung zur Adoption der Verdacht entgegenschlägt, dass er als alleinstehender Mann ein pädophiles Interesse an Alexander haben könnte.
Alexander erscheint nach einem Zeitsprung als aufbrausender Jugendlicher
„In seiner unaufgeregten Art, Kindern in ihrem schier unfassbar schweren Schicksal helfend zur Seite zu stehen, hat mich Carlos Benede sehr berührt. Es war mir eine Ehre, diese Lebensgeschichte filmisch würdigen zu dürfen“, sagt Regisseur Fabrick. Das gelingt zweifellos, vielleicht hätten aber ein paar Ecken und Kanten der ein wenig zu glatt polierten Figur nicht geschadet. So ist auch schwer nachzuvollziehen, dass sich Carlos Benede abrupt von seiner Freundin Valerie (Stefanie Stappenbeck) trennt, um ganz für Alexander da zu sein. Streit gab es nicht, und die Eifersucht des Jungen wird nur zart angedeutet. Aber es ist zugleich die Stärke des Films, einfach nur die Geschichte zu erzählen und sich nicht in Küchenpsychologie und wortreichen Erklärungen zu ergehen. Es genügt zu zeigen, dass Alexander in Träumen und Erinnerungen immer wieder von dem Erlebten eingeholt und gequält wird. Nach einem Zeitsprung von fünf, sechs Jahren hat er sich in einen derart aufbrausenden Jugendlichen gewandelt (nun gespielt von Vincent zur Linden), dass Carlos mit dem Gedanken spielt, ihn doch noch in ein Heim zu geben. Es kommt allerdings ganz anders und auch das Finale, das man für den zweifelhaften Einfall eines Drehbuch-Autors halten könnte, ist bitter und schön und dennoch wahr. Buch und Regie kommen nicht nur ohne Kitsch und Heldenpathos aus, sondern verdichten die Biografie Benedes, ohne Verfälschendes hinzuzufügen – was von Respekt zeugt für diesen engagierten Menschen, der mittlerweile in Dachau ein Wohnheim für Jugendliche gegründet hat. (Text-Stand: 10.11.2017)