Der Tag, an dem Marianne Voss (Valerie Koch) ermordet wird, beginnt mit unspektakulärer Alltagsroutine. Die Kamerafahrt von der ersten Etage bis zum Keller zeigt, dass die Eheleute in getrennten Räumen schlafen. Und dass Marianne, die einen Friseursalon betreibt, ihrem Mann Karsten (Jörg Schüttauf) einen Zettel mit einer kleinen To-do-Liste auf die Treppe legt, irritiert auch. Beide wechseln nur wenige Worte miteinander, es gibt keinen allzu herzlichen Abschied, aber die Stimmung ist auch keineswegs gereizt. Ein ganz normaler Morgen, so scheint es. Allerdings zoomt die Kamera auf das Paar Schuhe, das zuvor beim Unheil verkündenden Vorspann so seltsam ordentlich im Wald herumstand. Als Tochter Heike (Hannah Ehrlichmann) am nächsten Tag mit ihrem Stiefvater Karsten und dem mit der Familie befreundeten Ralf Wagner (Bernhard Schütz) die vermisste Mutter im Wald sucht, findet sie erst diese Schuhe und wenige Meter entfernt die Leiche Mariannes. Karsten hatte mit dem verdächtigen Satz „Hier in dem Waldstück ist sie auch oft“ in die richtige Richtung gewiesen.
Dennoch erscheint es absurd, als wenig später Staatsanwalt Hildebrand (Pierre Besson) an Voss‘ Tür klingelt, einen Durchsuchungsbeschluss und einen Haftbefehl wegen Mordes präsentiert. Der Film springt nun direkt zum Prozessbeginn sechs Monate später im Jahr 2013. Er sei „inspiriert von wahren Begebenheiten“, heißt es in einer Einblendung zu Beginn. „Personen und Geschehnisse wurden fiktionalisiert.“ Allerdings ist die Fiktion so nahe an der Realität, dass sich der Fall, der dem Drehbuch von Karin Kaçi („Freibad“, „Geborgtes Weiß“, „1000 Arten den Regen zu beschreiben“) zugrunde liegt, mühelos in der Suchmaschine finden lässt. Die Geschichte ist in ihren Grundzügen übernommen, viele Details stimmen überein. Natürlich wurden die Namen des Ortes und der Personen geändert. Auch wird der mehrmonatige Gerichtsprozess mit zahlreichen Zeuginnen und Zeugen aufs Wesentliche – die Ehe von Marianne und Karsten – reduziert. Typische Aspekte eines Krimis wie das Alibi, die Rekonstruktion der Zeitabläufe und der Tat selbst spielen hier kaum eine Rolle. Kaçi und Regisseurin Uljana Havemann („Der Alte und die Nervensäge“) sind mehr an den Figuren, den Gründen für ihr Handeln und an der verhängnisvollen Entwicklung der Ehe interessiert.
Foto: ZDF / Stefan Erhard
Das gelingt in der Montage aus Gerichtsszenen und Rückblenden vorzüglich. Die frühen Jahre der Ehe von Marianne und Karsten werden mit einigen Bildern im Stile privater Super-8-Filme angedeutet: die Hochzeit, ein Urlaub am Strand, Heikes erster Schultag. Die politische Wende 1990 ändert alles und stellt die familiäre Hierarchie auf den Kopf. Marianne Voss wirkt überrumpelt, als sich in ihrem Haus ein Kommando sozialdemokratischer Aktivisten um Fritz Malowski (Thorsten Merten) breit macht und ihr Mann plötzlich verkündet: „Ich werde Bürgermeister.“ Da muss sie lachen und tätschelt ihrem „Vossi“ ziemlich herablassend die Wange. Aber Karsten Voss erweist sich als Macher, der große Firmen in den Ort lockt und dem Gemeinderat sogar den Bau eines FKK-Wellnesstempels aufschwatzt. Überaus seltsam ist der Gegensatz zu seinem Auftreten als Ehemann, der kein Widerwort zu kennen scheint und – wie in der Einführung – tägliche To-do-Listen abarbeitet. Den biografischen Hintergrund liefert Hilde Wagner (Steffi Kühnert) vor Gericht. Die zum Teil demütigenden Anekdoten werden außerdem durch die neutrale Perspektive der Therapeutin Dr. Rashan (Marie-Lou Sellem) ergänzt. Erstaunlich, wie Schüttauf der unwahrscheinliche Spagat zwischen ungeduldigem Politik-Macher und unterwürfigem Ehemann gelingt. Auch in den Therapiesitzungen erweist sich Karsten Voss als braver Patient. Tragikomisch die Szene, in der er demonstrieren soll, wie er seine Frau umarmt – am Modell eines Riesenkuschelbärs. Zwar sind die Biografien der Figuren sehr speziell, doch die Unfähigkeit, Konflikte auszutragen, überhaupt miteinander zu kommunizieren, treten wohl nicht nur in der Voss’schen Ehe auf – insofern hat der Film eine zeitlose, allgemeingültige Botschaft. „Ich wollte sie immer haben. Aber das haben wir uns nie gesagt. Wir sind nicht so, so was brauchen wir nicht“, erklärt Voss seiner fassungslosen Therapeutin, die auch vor Gericht aussagt.
Beeindruckend auch Valerie Koch als eine Frau, die ihren Mann Karsten einst nur aus der Not heraus geheiratet hat. Der leibliche Vater von Heike hatte sich aus dem Staub gemacht und die Familie scheute die „Schande“ eines Kindes aus einer Beziehung ohne Trauschein. Die gesellschaftlichen Konventionen unterschieden sich im Sozialismus offenbar nicht groß vom Kapitalismus. Um Verrat und Stasi-Spitzelei geht es hier mal nicht, die DDR-Geschichte fließt nur ein, wenn es für die Beziehung der Eheleute Voss von Bedeutung ist. Auch Kamera und Szenenbild vermeiden eine klischeehafte Darstellung in typischer DDR-Optik. Und die brandenburgische Nachwendezeit besteht auch aus einer visuellen Widersprüchlichkeit: Da ist die kleinbürgerliche Enge im Haus der Familie Voss, man blickt kurz in Mariannes piefigen Friseursalon und in die bescheidenen Rathaus-Räume – während der üppige Badetempel, den Karsten Voss hochziehen ließ, wie die späte Erfüllung verbotener DDR-Reiseträume wirkt. Wer sich auch im vereinten Deutschland keinen Urlaub unter Palmen leisten kann, der kann ihn nun vor der Haustür simulieren.
Während Karsten also am großen Rad dreht, führt Marianne nach der Wende den Friseursalon einfach weiter, den sie schon von ihrer Mutter übernommen hatte. Sie blickt auf ihren klein gewachsenen Mann, den „Wicht“ (Marianne), weiter herab, sonnt sich aber gerne im Glanz, der vom erfolgreichen Bürgermeister auf sie abstrahlt. Schmerzhaft peinlich sind da manche Szenen, in denen deutlich wird, wie die Eheleute nach außen den falschen Schein wahren, obwohl sie wissen müssten, dass ihr Umfeld längst hinter die lieblos errichtete Fassade geblickt hat. Valerie Koch spielt das bisweilen herrlich perfide, etwa in der Szene, in der Marianne ihren Mann nötigt, vor dem Weihnachtsbaum und vor Hilde Wagner das „Gedicht von der kleinen Kerze“ aufzusagen. Deutlich wird aber auch die Einsamkeit und Verzweiflung des späteren Mordopfers – ebenso wie die Untreue und der finanzielle Leichtsinn des Mannes, der sich erkauft, was ihm seine Ehefrau nicht schenken kann. Und der gegenüber der thailändischen Prostituierten Mayari (Ponny Distakul) endlich auch privat den großen Macker spielen darf. Das zeitweise zwiespältige Gefühl einer möglichen Täter-Opfer-Umkehr weicht zunehmend dem Eindruck, dass sich hier eine große Tragödie um zwei Menschen offenbart, die aus ihrem Unglück nicht herausfinden, die gegen jede Vernunft „unzertrennlich“ sind, wie die Richterin (Doreen Fietz) einmal sagt.
Foto: ZDF / Stefan Erhard
Der Vergleich zu einem anderen ZDF-Drama drängt sich auf. Die Sache ist ein bisschen kurios: Während Ferdinand von Schirachs juristisches Lehrstück „Sie sagt. Er sagt.“ auf einer komplett erfundenen Geschichte beruht und von Matti Geschonneck dennoch als pures Gerichtsdrama inszeniert wurde, erlauben sich Kaçi und Havemann bei dem auf einem realen Fall beruhenden Film ein freieres, spielerisches Konzept. Und während Geschonneck/von Schirach das Publikum ohne Urteil entlassen und somit die strenge, dokumentarische Anmutung zum Schluss aufgeben, endet „Der Fall Marianne Voss“ gegenläufig, aber ebenso konsequent. Schrifttafeln informieren über das tatsächliche Urteil in dem Indizienprozess gegen den ehemaligen Bürgermeister aus Brandenburg. So unterschiedlich die Herangehensweisen sind: Beide Filme erzählen von der Notwendigkeit, aber auch der Mühe der Wahrheitssuche vor Gericht – und ihren Grenzen. (Text-Stand: 8.3.2024)