Die Mutter ist gestorben. Widerwillig reist der erfolgreiche Architekt mit Frau und Kindern in das Alpendorf, in dem er aufgewachsen ist. Der schweigsame Familienpatriarch Georg Winter ist unruhig und noch unzugänglicher als sonst. Einquartiert in seinem Geburtshaus, einer beengten Berghütte, inmitten einer endlosen Schneelandschaft, wird deutlicher, was sich im heimischen Hamburg hinter dem schönen Schein bildungsbürgerlichen Wohllebens leichter verstecken lässt: diese Familie ist sich fremd, die Ehe ein emotionales Vakuum. Der Umgang zwischen den Eltern ist lieblos, die Tochter himmelt den Vater an, die Mutter vergöttert den Sohn, befriedigt sich nachts im Ehebett selbst und der Vater gibt den Abwesenden.
In dem Debüt-Langfilm von Schauspielerin Ina Weisse, „Der Architekt“, sieht der Zuschauer einer Familie bei ihrer stillen Selbstzerfleischung zu. Die Explosion in einem Steinbruch zu Beginn kündigt es an: dem Helden wird bald sein ganzes verlogenes Leben um die Ohren fliegen. Der Tod der Mutter, der es ihrem Sohn nie verziehen hat, dass er mit seiner Frau nach Norddeutschland gezogen ist, macht der Verdrängung ein jähes Ende. In einer Kapelle wird die Stunde der Wahrheit eingeläutet: der Pfarrer verliest Marie Winters letzten Willen. Der Zerfall der Familie ist nur noch eine Frage der Zeit. Die Mutter besäuft sich, die Tochter stapft ziellos durch den Schnee, der Architekt sucht nach seinem Selbstwertgefühl bei seiner Jugendliebe und der Versagersohn könnte erstmals zum Helden der Familie werden. Das Alpendorf-Szenario im Tiefschnee betont die Unbehaustheit, die Kälte, die in dieser Familie herrscht: Georg Winter, „der Bestimmer“, der sich selbst fremd zu sein scheint, ist der Vater dieses Gefühls, aber er ist nicht der Haustyrann, wie er oft durch Heimatdramen poltert. Ina Weisse geht es weniger um die Abrechnung mit dem Vater, nicht um die Frage nach der Schuld (die hat in guten Familiendramen nichts zu suchen), ihr geht es stärker um die wiederkehrenden Strukturen, die seelischen Traditionslinien einer Familie. „Der Architekt“ ist eine schrecklich schöne Familienaufstellung, präzise inszeniert in glasklaren Filmbildern.
Foto: NDR / Andreas Fischer
Ina Weisse über ihren Film „Der Architekt“:
„Der Architekt Georg Winter ahnt, dass er sein Leben falsch konzipiert hat. Verdrängung und Unterdrückung werden zu einer Frage von Macht und Ohnmacht. Es ging mir darum, die Mechanismen sichtbar zu machen, wie in einer Familie unverarbeitete Konflikte an die nächste Generation weitergegeben werden. Die Sprachlosigkeit der Mutter geht auf den Sohn über, der sie weiter auf seine Kinder überträgt.“
Gleich zu Beginn fällt die großartige Bildsprache auf. In der Eingangsszene eine weiße Winterlandschaft, soweit das Auge reicht. Und immer wieder ist es in „Der Architekt“ die Semantik des Schnees, die dem Subtext der Geschichte zuspielt. Eine frostige Angelegenheit, eine Naturgewalt, die einen gefangen nimmt, aber auch Lustspender beim morgendlichen Tollen nackt durch den Neuschnee und ein Beschöniger der tragischen „Familienkreise“ mit seiner dämpfenden Wirkung. Nie übertreibt Weisse diese Metaphorik. Mit ihrem Debüt steht sie in bester europäischer Kunstfilmtradition, indem sie die Sinnlichkeit und die Signifikanz des Gezeigten in wunderbarer Spannung belässt. Vorbildlich auch die temporäre Dramaturgie, klar, konzentriert, reduziert, bei der der Zuschauer nach und nach zum Komplicen wird.
Ein „Geheimnis“ gibt es auch hier – aber es wird nicht wie in durchschnittlichen TV-Dramen als künstliches Finalspannungsmittel missbraucht, sondern es entschlüsselt sich zur „Halbzeit“ und kann so für das gegenwärtige Drama genutzt werden. Der Film besitzt die größte Kraft in seinen stillen Momenten, in der sich die Sprachlosigkeit der Figuren ästhetisch Bahn bricht. Und da spätestens muss von den überragenden Schauspielern die Rede sein. Josef Bierbichler, Hilde van Mieghem, Matthias Schweighöfer, Sandra Hüller, Sophie Rois – eine traumhafte Besetzung schon auf dem Papier. Im Film mehr als das. Sie alle halten der intensiven Filmsprache stand – und das, ohne laut und bedeutungsträchtig werden zu müssen, in stiller, aber physisch hoch präsenter Verzweiflung. „Der Architekt“ besticht vor allem in der lebensklugen und ästhetischen „Durchmischung“ der Kraftfelder, in denen sich gute Filmdramen bewegen: der Spannung zwischen Schauspieler und Filmsprache, zwischen Realismus und Formwille, zwischen Sinn und Sinnlichkeit. (Text-Stand: 21.4.2012)