Es gibt wieder was zu tun für Dengler (Ronald Zehrfeld) in der Hauptstadt. Trotz Bauboom steigen die Mieten auch hier weiter – und weil Neuvermietungen weitaus lukrativer sind als normale Mieterhöhungen, werden selbst in Kreuzberg die Entmietungspraktiken immer krimineller. Olga (Birgit Minichmayr) funkt SOS nach Stuttgart – und der Privatermittler lässt sich nicht lange bitten. Endlich mal wieder für eine sinnvolle Sache die Knochen hinhalten! In einer Hochhausanlage mitten im Kiez wurden in einem Wohnblock Ratten ausgesetzt. Eine hat dem achtmonatigen Baby von Olgas Freundin Ezra (Seyneb Saleh) den halben Zeigefinger abgebissen. Das ist der bisherige Höhepunkt einer Vertreibungskampagne, dessen Drahtzieher offenbar der Immobilieninvestor Jan Kröger (Peter Trabner) ist. Der Mann, der stets seine Malocher-Wurzeln betont, will zwar Luxusapartments bauen, möchte aber mit Sanierungen auch etwas für die kleinen Leute in Berlin tun. Und dann engagiert er Dengler, damit dieser die Verantwortlichen der Rattenaktion finden solle. Für Olga ist das ein Ablenkungsmanöver, mehr nicht. Dengler nimmt dennoch an, denn dies öffnet ihm Tür und Tor der Immobilien-Firma; und so kann er dem Justitiar Gross (Sabin Tambrea) und Krögers Tochter (Kira Zurhausen) problemlos auf die Finger schauen. Doch zunächst heften er und Olga sich an die Fersen der „Rattenbeauftragten“. Und die greifen mittlerweile zu noch drastischeren Mitteln.
Zum sechsten Mal dürfen in der Polit- und Wirtschaftskrimi-Thriller-Reihe „Dengler“, von der das ZDF seit 2015 jährlich (außer 2020 wegen Corona) eine Episode auf den Bildschirm bringt, der wuchtige Privatermittler und seine toughe Hacker-Freundin denen da oben die Hölle heißmachen. Der Titel „Kreuzberg Blues“ – so heißt auch Wolfgang Schorlaus Romanvorlage – gibt die Stimmung und den Fokus des Films ganz vortrefflich wieder. Lars Kraume, Stammautor der Reihe, der drei Mal auch Regie führte, und Jungregisseur Daniel Rübesam („The 100 Candles Game“) präsentieren den ewigen Kampf zwischen David und Goliath eine Nummer kleiner als gewohnt. Eine weniger lebensgefährliche Recherche, kein Kampf mit skrupellosen Rüstungskonzernen oder globalen Wasser-Spekulanten und keine Konfrontation mit der gern mal korrupten Staatsmacht (BND & BKA haben frei). Zwar ist der Fall für Dengler und Olga etwas komplizierter als zunächst angenommen, aber die Machenschaften hiesiger Wohnungskonzerne sind – selbst mit internationalen Investoren und krummen Übernahmegeschäften – für den Laien sehr viel leichter zu begreifen als beispielsweise der ohne Vorwissen schwer verständliche NSU-Komplex in „Die schützende Hand“ oder der mit Action konfus überdrehte Billigfleisch-Mafia-Plot in „Am zwölften Tag“.
Im dreckigen Kleinkrieg müssen die beiden aufrechten Helden ihren Mann und ihre Frau stehen. Befragungen und Observationen im Kiez, dann doch eine (sich zufällig ergebende) Schlägerei auf Leben und Tod – diese physische Direktheit, dieses Wühlen ganz unten, das ist die Stärke von Dengler, der dramaturgisch andere Möglichkeiten hat als ein verbeamteter Kommissar im „Tatort“. Und diese Körperlichkeit ist zugleich das Alleinstellungsmerkmal von Ronald Zehrfeld. Aber auch Birgit Minichmayr nimmt man die rabiate Lederklamotten-Aktivistin jederzeit ab. Diesmal ist es an ihr, Dengler mal eben das Leben zu retten. Die beiden sind zwei zeitgemäße Helden, integer, idealistisch, systemkritisch, stur. Warum er seinen Job bei der Polizei aufgegeben habe, will ein skeptisch dreinblickender altlinker Straßenkämpfer wissen. Die Antwort, die „Dengler“-Neulingen clever die Vorgeschichte präsentiert, gibt Olga: „Er kann keine Autoritäten akzeptieren, ist stur und hält Gesetze für verhandelbar; also völlige Fehlentscheidung zu den Bullen zu gehen.“ Was nicht heißen muss, dass die Interessen der beiden nicht auch mal mit denen der Polizei übereinstimmen können. So darf Dengler den Immobilien-Raffzahn im Auftrag der Staatsanwaltschaft verwanzen. Ansonsten aber bevorzugt er radikalere und vor allem schnellere Ermittlungsmethoden. Beim guten Ende hat Olga ihr Hacker-Händchen im Spiel: eine coole Überführung per Livestream. Schön, auch für den Zuschauer, wenn der kleine David plötzlich das Sagen hat und er seine Allmacht genüsslich auskosten kann. Dengler und Olga sind im Übrigen zwei Hauptfiguren, die auch über die Grenzen des braven ZDF hinaus ihr Publikum finden könnten. Dass Amazon Prime die Reihe für seine Abonnenten kostenpflichtig anbietet, dürfte kein Zufall sein.
„Kreuzberg Blues“ zeigt allerdings, dass mehr Action und Bewegung nicht unbedingt sein müssen. Dengler muss nicht wie bisher mit einem Energiefresser-Motorrad anrauschen. Ein (umwelt)bewusster Held wie er fährt besser Bahn. Und auch die Dramaturgie darf bei diesem Titel stärker den filmischen Faktor Raum feiern, als mit Schnitt Tempo zu machen. Trotzdem gelingt Regisseur Rübesam auf der Grundlage eines stimmigen und klar strukturierten Drehbuchs ein sehr flüssiger Erzählrhythmus. Gut überschaubar wie die Locations sind auch die Konfliktlagen und die Situationen. Durch den Wechsel der Erzählperspektive weiß man gelegentlich mehr als die Protagonisten, allerdings nichts für die Handlung Entscheidendes (so wird beispielsweise nicht verraten, was Dengler mit der toten Ratte beim Tierarzt will). Die Zuschauer*innen bekommen die Fakten nicht einfach vorgesetzt, womöglich noch per Dialog wie in Durchschnittskrimis, nein, sie können selbst Schlüsse ziehen und sich ein Stück weit selbst einen Reim auf das Geschehen machen. Ein Vorteil zum herkömmlichen Ermittlerkrimi: „Dengler“ benötigt keinen Mord für die notwendige Fallhöhe. Es wird zwar gegen Ende zwei Tote geben; und die müssen sein, um die Skrupellosigkeit der „Bösen“ zu unterstreichen und um den Weg für die Lösung des Problems frei zu machen. Und wer den Helden so übel mitspielt, der hat es auch (moralisch) verdient. Dengler & Olga werden wiederkommen. Vielleicht etwas anders ausgerichtet als bisher, wie die Schlussszene, eine perfekt gespielte Beziehungsminiatur, andeutet. „Zieh doch mal nach Berlin“, fordert Olga Dengler auf. „Ist das deine Art zu fragen, ob wir zusammenziehen wollen?“. Schallendes Lachen als Antwort: „Nee, nur ein gut gemeinter Rat unter Freunden.“ Lange Pause. „Ich denk mal drüber nach.“