Weihnachten im Waisenhaus. Inga, das umsichtige Mädchen, deren Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen sind, und ihr bester Freund, das Findelkind Emil, leiden unter dem Rohrstock der Heimleiterin Frau Landfried. Diese macht mit der Arbeit der Kinder gute Geschäfte. Selbst noch an Heiligabend lässt sie in der bitteren Kälte die Kleinen auf dem Weihnachtsmarkt Schwefelhölzer verkaufen. Die beiden machen wenig Umsatz. Inga gibt ihre verdienten Groschen dem Freund, der große Angst vor den Schlägen der Landfried hat, und schickt ihn zurück ins Heim. Sie selbst versucht weiter ihr Glück. Sie besucht das verfallene Haus ihrer Eltern und versetzt sich mit Hilfe der wärmenden Schwefelhölzer in ihre Kindheit zurück und erinnert sich an das Weihnachtsfest im Kreise ihrer Liebsten…
Ein frierendes, hungriges, emotional unterversorgtes Kind als Hauptfigur in einem Märchen, das zu Weihnachten spielt, in jener Zeit des Jahres, in der einst die Völlerei und heute das Konsumfieber grassiert, einer Zeit, die gern mit Werten wie Nächstenliebe und Harmonie belegt wird – „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ ist eigentlich das ideale Märchen für die weihnachtliche ARD-Reihe „Sechs auf einen Streich“. Und so wundert es einen, dass diese besinnliche Mär von Hans Christian Andersen erst 2013, dem sechsten Jahr der Reihe, verfilmt wurde. Vielleicht schreckten die Sender vor der großen Traurigkeit dieses Märchens zurück? Schließlich feierten die ersten Verfilmungen mit komödiantischem Unterton, mit folkloristischer Naturverbundenheit, mit Sommer, Sonne, guter Laune und kurzweilig servierter Moral Erfolge beim Zuschauer. Und so gingen die meisten Sender auf Nummer sicher. Vielleicht wollte man sich aber auch nicht alle Ausstrahlungs-Optionen nehmen lassen. Denn mit diesem Winter-Märchen wird es nichts im Oster- oder Feriensommerprogramm.
Ein umso größerer Gewinn ist diese stimmig-stimmungsvolle Märchenverfilmung bei ihrer Ausstrahlung am 25. Dezember. Kleine Kinder in historischen oder realitätsfernen Hauptrollen – das ist stets ein Risiko. Wie bereits 2012 bei „Hänsel und Gretel“ und „Rotkäppchen“ zahlt sich dieses Wagnis auch dieses Jahr bei „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ aus. Die sensible Ernsthaftigkeit, mit der Lea Müller und Maximilian Ehrenreich ihre Waisenkinder spielen, ist quasi das Pendant zu „großen“ Schauspielern wie Matthias Brandt in „Des Kaisers neue Kleider“ oder Axel Milberg in „Das tapfere Schneiderlein“, die das Kind im Manne entdeckten, oder anderen erwachsenen Mimen, die allzu oft im naiven Märchenfilm-Modus agieren müssen (eine altkluge Kommunikation, die an die „Gespräche“ zwischen Eltern und ihren Kleinsten erinnert). Schön, dass dieses Andersen-Märchen einen ganz anderen Ton anschlägt: Es ist nachdenklich, zeigt den Schmerz der Kinder ohne wohlfeile Rührseligkeit – und das Wichtigste: der Film wird ganz aus der Perspektive der Kinder erzählt.
Auch formal ist Uwe Jansons Film nach dem Drehbuch von David Ungureit komplexer strukturiert als die klassischen Wohlfühlmärchen. Der Plot ist reduziert, die Handlung ergeht sich nicht in einfallsloser Und-dann-und-dann-Dramaturgie; dafür werden die Situationen atmosphärisch ausgespielt – die Nacht ist dunkel, bitterkalt und es schneit. Regie und Schauspieler, Szenenbild und Kostüm gelingt es, eine fremd(artig)e Welt zu erschaffen. Die Kraft der Phantasie obsiegt über die schnöde Realität also nicht nur in der Geschichte, in der sich Inga in warmem weihnachtlichem Licht die Familienzusammenführung erträumt. „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ ist ein Märchen von großer Traurigkeit und feinsinniger Transzendenz. Man kann auch tote Menschen in seinem Herzen behalten. Auch kleine Kinder können bei diesem Märchen etwas lernen – von dieser Inga, dem Mädchen, das abgeben kann, von Emil, der selbst der ausbeuterischen Heimleiterin (doppelbödig: Nina Kunzendorf) eine zweite Chance gibt und der als ihr Nachfolger die Kinderarbeit aus dem Heim verbannt. Und die kleinen Zuschauer können „fühlen“, was Kindersolidarität bedeutet, in einer Szene, in der der Sieger beim Schwefelhölzerverkauf darauf verzichtet, Emil, den Verlierer, zu züchtigen, wie es die böse Landfried befohlen hat. Allein sollten Kinder zwischen vier und sechs Jahren diesen Film, eine Einübung in Sachen Empathie, besser nicht ansehen. Dieses wunderbare Märchen fordert also auch die Eltern! (Text-Stand: 25.11.2013)