Eine verlorene junge Frau und ein Ritter wider Willen suchen eine Heimat
Marthe (Ruby O. Fee) besitzt eine besondere Gabe. Die junge Frau beherrscht nicht nur die Hebammenkunst, sie kann auch Krankheiten heilen – und sie weiß, wann für jemanden die letzte Stunde geschlagen hat. „Ich kann es sehen, es ist wie ein Licht“, sagt sie, doch sie verleugnet lange Zeit ihre Gabe. Aus gutem Grund. Zwar kennt das 12. Jahrhundert noch keine Hexenverbrennungen, doch ständig sieht sie sich dem Vorwurf ausgesetzt, sie sei mit dem Teufel im Bunde. Außerdem musste sie als Kind mit ansehen, wie ihre Mutter getötet wurde – und sie gibt sich dafür offenbar die Schuld. Jetzt endlich scheint für Marthe eine bessere Zeit gekommen zu sein. Sie hat ihren Platz gefunden in einer neu gegründeten Dorfgemeinschaft in der Mark Meißen. Ihr Fürsprecher ist Ritter Christian (Steve Windolf), der die Siedlergruppe aus dem Fränkischen in die neue Heimat geführt hat und der selbst in Frieden leben möchte. Endlich ankommen, nicht länger Schlachten schlagen. Eine Heilerin im Dorf ist Gold wert. Aber diese geheimnisvolle Marthe hat es Christian auch als Frau angetan. Doch dann muss der Unfreie, der im Dienst des Markgrafen Otto von Wettin (Franz Xaver Kroetz) steht, doch wieder kämpfen: gegen Heinrich den Löwen, gegen die Burgintrigen von Hedwig von Wettin (Susanne Wuest) und seinen Erzrivalen Randolf von Muldenstein (Sabin Tambrea). Der edle Ritter kann es nicht verwinden, dass Markgraf Otto den Bauernsohn Christian ihm vorzieht. Randolfs Hass wird auch noch Marthe zu spüren bekommen.
Foto: Degeto / Bavaria
Angenehm episch breit erzählt und ein „Realismus“-Anspruch aller Gewerke
„Das Geheimnis der Hebamme“ ist entstanden nach dem gleichnamigen historischen Roman von Sabine Ebert. Er ist Teil eines Romanzyklus’, der ein breit angelegtes Panorama des ausgehenden 12. Jahrhunderts zeichnet. Das entspricht dem ersten Eindruck, den man von dem dreistündigen Film nach wenigen Minuten bekommt. Ein Siedlertreck zieht durch die Landschaft. Es ist ein mühevoller Weg. Erzählerisch ist epische Breite angesagt, die unterbrochen wird von dramatischen Episoden: der Verfolgung der Heldin, dem blutigen Angriff auf den Treck, der Intrige von Hedwig und ihrem Günstling Randolf, einer Vergewaltigung, einem Hinterhalt, Verwundungen, Heilungen und einem letzten Duell. Ein bisschen Spannung und Ritterfilm-Konvention müssen sein; insgesamt aber schlägt in Roland Suso Richters Mittelalter-Mär nur selten die Stunde der wagemutigen Recken, ist das Kreuzen der Klingen, der Kampf, für gewöhnlich das Hohelied des Ritterfilms, nicht das Epizentrum der Handlung. Entsprechend gibt es wenig ungelenkes Agieren in Kettenhemden oder auf schwer(blütig)em Schlachtross, auch die Szenen auf der Ritterburg hinterlassen dank Szenenbild, Lichtgestaltung, Kamera und Montage einen realistischen Eindruck. Die Dialoge sind knapp, die Rhetorik der Darsteller nur selten überzogen, das Alltägliche überstimmt auch in diesen Situationen das Dramatische. Selbst die Musik ist nie aufdringlich, fungiert eher als eine Art musikalisches Ornament, gipfelnd in einigen stimmungsvollen, wunderschönen Chorälen. Gelegentlich werden auch mittelalterliche Volksweisen (sogar im On) angestimmt – das klingt zumeist so, als ob sie auch auf den Instrumenten jener Zeit (Drehleier, Laute, Harfe, Flöte) gespielt würden. Der „Realismus“-Anspruch zieht sich also durch alle Gewerke.
Zur ungewöhnlichen Arbeitsweise von Regisseur Roland Suso Richter:
„Gemeinsam mit dem Ausnahmekameramann Martin Gschlacht schuf Richter eine an Theaterproben erinnernde Situation, in der sich die Schauspieler relativ frei entfalten und ihre eigenen Vorstellungen der Figuren kreativ einbringen konnten. Es gab keine durchkomponierte Bilderwelt, sondern ein quasi dokumentarisches Eintauchen in eine mittelalterliche Welt, die wir nachbauten und in der die Schauspieler mehrere Monate lebten.“ (Produzent Ronald Mühlfellner)
„Man bekommt bei Roland unendlich viel Freiheit. Man darf jeden Take anders spielen und muss kaum auf Anschlüsse achten. Dadurch entsteht sehr viel Kreatives und Unvorbereitetes.“ (Steve Windolf)
Foto: Degeto / Bavaria / Richter
Glückssuche Marke Mittelalter mit Frontier-Western-Touch plus Silberrausch
Leben retten statt töten, die Kultivierung des friedlichen Zusammenlebens, der Alltag in einer Dorfgemeinschaft, Liebe statt Kampf, das Funktionieren der Ständegesellschaft und das Lehen-Prinzip – um diese sozialen Motive kreist die Geschichte. „Das Geheimnis der Hebamme“ wirkt wie ein „Frauenfilm“ im Gewand eines Genres, das bisher vor allem den Männern als Handelnden vorbehalten blieb. Das Event-Movie trägt deutliche Züge eines Western – nicht jenes bleihaltigen Genres der knallenden Revolver, sondern jener epischen Frontier-Western mit ihren Planwagentrecks und dem typisch amerikanischen Pioniergeist. Es ist sicher kein Zufall, dass der Cowboy heldenmythologisch vom mittelalterlichen Ritter abgeleitet wird. Und noch eine Parallele, die der Film erzählt: Was in Kalifornien der Goldrausch war – dem entspricht im Sachsen des 12. Jahrhunderts der Run auf das Bleierz. Doch mit dem Silberabbau ist wie später im Wilden Westen ein hoher Preis verbunden. Jedenfalls leiden die Bewohner von „Christiansdorf“ eher unter der Silbergewinnung, als dass sie von ihr am Ende profitieren würden. Mit der Fokussierung der Geschichte auf das Sozialwesen einher geht auch die filmische Darstellung des Mittelalters. Versanken Fernsehfilme wie die „Wanderhuren“-Trilogie, „Isenhart“ oder „Die Pilgerin“ telegen im Dreck, in Schlamm und Gestank, suchte Richter neben Krankheit, Blut und Schmutz auch Bilder, in denen sich ein anderes Lebensgefühl spiegelt. „Es mussten doch auch Gefühle wie Freude, Glück und Zuversicht ihren Platz in der damaligen Zeit gehabt haben“, sagte er sich – und versuchte, die Geschichte nicht als bloße Projektion aus heutiger Sicht zu erzählen. „Ich begab mich auf die Suche nach den kleinen Momenten, die den Menschen Sicherheit und Zuversicht gegeben haben mussten, nach Farben, Licht und Tönen in einer sehr entbehrungsreichen, kargen und emotional verrohten Zeit.“ Und eine große Aufgabe für die Ausstatterin Jana Karen. Es ist beeindruckend, was sie da dem Auge alles zu präsentieren weiß. Doch das eigentliche Glücksversprechen gibt natürlich die Geschichte selbst – die Liebe zwischen der jungen wilden Frau und dem integren, moralisch edlen Rittersmann.
Foto: Degeto / Bavaria / Richter
Windolf, Tambrea, Wuest, Kroetz: perfektes Erscheinungsbild braucht wenig Worte
Aber was wäre das alles – diese Geschichte, die sich klug auf das Wesentliche beschränkt, dieser souveräne Erzählfluss, der ohne kurzatmige Konfliktherde auskommt, dieser bisweilen geradezu dokumentarische Blick auf die Alltagsgeschäfte der Menschen, diese unaufgeregte, für TV-Verhältnisse brillante Bildsprache – ohne diese vorzügliche Besetzung: Steve Windolf („Starfighter“) ist perfekt als der weiße Ritter, der nichts anderes mehr als Mensch sein und der endlich heim kommen will. Sabin Tambrea („Nackt unter Wölfen“) als schwarzer Ritter, Sinnbild fürs dunkle Mittelalter, ist nicht nur optisch der ideale Gegenspieler. Gleiches gilt für Susanne Wuest („Tatort – Zwischen den Fronten“) als die pragmatische Gemahlin des Markgrafen, deren markante Physiognomie plus Kostüm & Maske dem hochwohlgeborenen mittelalterlichen Bild von Weiblichkeit ausgesprochen nahe kommt. Optisch ohne Fehl und Tadel ist auch Franz Xaver Kroetz als Markgraf, allerdings sind sowohl seine Figur als auch deren Texte etwas simpel geraten. Ganz im Gegensatz zur vielschichtigen Rolle seiner Gemahlin: Wuests Hedwig darf intrigieren, sie wird als treue Tochter gezeigt, als liebende Mutter und als Ehefrau, die weitaus klüger ist als ihr einfach gestrickter Gemahl. Sie setzt ihre Günstlinge und auch die Heldin freundlich unter Druck. Sie ist machthungrig, aber keine falsche Schlange, sie ist eine aufrechte Frau der klaren Worte. Für eine tragende Nebenfigur in einem Mittelalterdrama ist sie eine sehr komplexe Gestalt. Das unterstreicht den Eindruck, dass „Das Geheimnis der Hebamme“ dramaturgisch und thematisch ein „Frauenfilm“ ist.
Kreatürlich ohne Verbindlichkeitslächeln: Ruby O. Fee, das Gesicht des Films!
Doch was wären diese Schauspieler ohne die junge Frau, die diesem Film ihr Gesicht gibt, die der Geschichte ihr Geheimnis schenkt, die diese drei Stunden zu einem Fernsehereignis macht. Ruby O. Fee („Als wir träumten“) darf in dieser Rolle einmal mehr verkörpern als die ambivalente, leicht bipolar gestörte junge Frau, halb Kind, halb Vamp (wie zuletzt in dem sehenswerten „Tatort – Kartenhaus“). Richters „Realismus“ spielt alle ihre Möglichkeiten aus, lässt quasi ihre ästhetischen Reize gegen das schmutzige Mittelalter antreten. Nach und nach obsiegt die Heldin auf dem Weg zum Glück gegen die dunklen Kräfte. Anfangs muss Fees Marthe noch durch die Wälder streifen wie weiland der „Wolfsjunge“ bei Truffaut – Lumpen am Körper, verängstigt der Blick, und kaum ein Wort kommt über ihre Lippen. Wann wird dieses seltsame Wesen wohl das erste Mal lächeln?, fragt man sich als Zuschauer. Nach 50 Filmminuten glaubt man aus der Ferne ein kurzes verschämtes Lächeln auf ihrem Gesicht zu erkennen. Das Scheue im Wesen der Hauptfigur bleibt aber und das Lächeln verfliegt bald wieder; schließlich muss der Liebste in den Kampf und sie einen anderen ehelichen. Ruby O. Fees Spiel wirkt befremdend, ohne jene psychologische Verbindlichkeit, wie man sie aus (historischen) Fernsehfilmen kennt. Ihre wenigen kurzen Sätze spricht sie hastig und abgehackt. Diese Marthe kann nicht so schnell zur Tagesordnung einer Liebenden übergehen; da nützt auch kein Ritter auf dem weißen Pferd. Ihre Erfahrungen (Ertränkung der Mutter, Vergewaltigung, Angst vor ihrer Gabe) sind auf ihrem Körper eingeschrieben – so interpretiert Fee ihre Rolle. Ihr Blick, häufig eine schön finstere Miene, verrät viel von ihrer Seelenlage. Aber es bleibt immer ein Rest, ein Geheimnis. Das gilt für viele Interaktionen in diesem Film. Viele Szenen bleiben angerissen, enden wortlos und Blicke leiten zum nächsten Bild über. Und selbst am Ende huscht nur ein Lächeln der Zufriedenheit über ihre Wangen. Wenn man sich in einigen Jahren an „Das Geheimnis der Hebamme“ erinnert, wird einiges vergessen sein – nicht aber dieses Gesicht, dieser verlorene Blick von Ruby O. Fee. (Text-Stand: 25.3.2016)