Im herkömmlichen Reihenkrimi sind die Rollen in der Regel festgelegt. Der Reiz der „Landkrimis“ vom ORF liegt darin, dass sich die Macher über solche ungeschriebenen Gesetze hinwegsetzen dürfen. Als das ZDF im Sommer 2018 den Krimi „Drachenjungfrau“ ausgestrahlt hat, stand Kommissar Martin Merana von der Salzburger Mordkommission eindeutig im Mittelpunkt; selbst wenn ihm die Krimmler Wasserfälle ein bisschen die Show stahlen. Die Leiterin des Krimmler Polizeipostens war hingegen eine eher unwichtige Nebenfigur. Regisseurin Catalina Molina hat an der Rolle allerdings offenbar großen Gefallen gefunden, denn im zweiten Krimi aus dem Salzburger Land haben sie und Koautorin Sarah Wassermair die Frau zur Hauptfigur gemacht, weshalb „Das dunkle Paradies“ mindestens so sehr ein Drama wie ein Krimi geworden ist. Musste sich Merana (Manuel Rubey) in „Drachenjungfrau“ den Geistern seiner Vergangenheit stellen, so hat Franziska Heilmayr (Stefanie Reinsperger) ein sehr gegenwärtiges Problem: Die Polizistin ist seit zwei Jahren mit einer Frau zusammen, schafft es aber nicht, ihrer konservativen Familie beizubringen, dass sie lesbisch ist. Als der Bruder ihrer Freundin unter Mordverdacht gerät, will sie die Ermittlungen nicht allein Merana überlassen, zumal sie von der Unschuld des Mannes überzeugt ist.
Die 3,5 Sterne ergeben sich aus 3 Sternen (Gangloff) und 4 Sternen (Tittelbach)
Schon im ersten Film haben Molina und ihr Kameramann Klemens Hufnagl („Tatort – Glück allein“) für eindrucksvolle Bilder gesorgt. Diesmal setzen sie gleich zu Beginn ein Zeichen: „Das dunkle Paradies“ beginnt mit einer minutenlangen ungeschnittenen Kamerafahrt, die nachts über dem Zeller See beginnt. Die Kamera fliegt zum Grand Hotel, gleitet eine Außentreppe hinauf, schwebt in das Gebäude, schaut sich dort ein wenig um und verlässt das Haus auf der anderen Seite, wo sie schließlich einer Frau begegnet, die sich in einer Unterführung mit einem Mann trifft. Dann wendet die Kamera um 180 Grad, fährt wieder zurück – mittlerweile ist es Tag geworden – und verharrt am Seeufer in der Nähe des Hotels: Im Wasser treibt die Leiche der eben noch quicklebendigen Frau; sie war eine Prostituierte, die für ein Edelbordell gearbeitet hat. Der Auftakt ist spektakulär und mit einer Musik unterlegt, die eine Art „Twin Peaks“-Atmosphäre entstehen lässt (den Gesangspart hat Molina selbst übernommen). Er weckt allerdings auch Erwartungen, denen der Film nicht gerecht wird, zumal die Geschichte immer wieder die Ebene wechselt, weil die Autorinnen dem Privatleben der Polizistin viel Platz einräumen: Franziska hat ihrer Freundin vorenthalten, dass sie ihre Eltern keineswegs über ihre Beziehung aufgeklärt hat; deshalb gerät Anni (Andrea Wenzl) in eine äußerst peinliche Lage, als sie Mutter Heilmayr (Ulrike Beimpold) auf der Straße trifft. Das hat zur Folge, dass bei dem Pärchen fortan der Haussegen gründlich schief hängt.
Leider gilt das in gewisser Weise auch für den Film. Das Drehbuch nimmt sich eine Menge Zeit für die Beziehungsprobleme und lässt Franziska ausführlich erklären, warum ihr das Coming out so schwer fällt: weil sie – groß, dick und schüchtern – schon zu Schulzeiten immer die Außenseiterin war; aber diese Zeit fehlt nun, um die Krimiebene seriös zu erzählen. Zwischendurch fällt der Verdacht auf einen Scheich, der im Grand Hotel unter dem Pseudonym Humphrey Bogart abgestiegen ist; ein früher Hinweis darauf, warum diese Fährte ebenso falsch ist wie das Geständnis, dass Annis Bruder (Wolfgang Rauh) doch noch ablegt. Die Auflösung erinnert an die wirtschaftspolitischen Komplotte, wie sie regelmäßig von Moritz Eisner und Bibi Fellner aufgedeckt werden. Mit den beiden hat Molina auch schon gedreht, aber ihre „Tatort“-Premiere („Glück allein“, 2019) war der weitaus bessere Krimi.
„Drachenjungfrau“, Molinas Regiedebüt, war zwar ebenfalls nicht besonders spannend, doch dafür sehr stimmungsvoll. Hufnagls Bildgestaltung ist erneut sehr sorgfältig, zumal es einige ausgesprochen schöne Bilder des von Nebelschwaden halb verdeckten herbstlichen Sees gibt, aber unterm Strich ist der Film deutlich schwächer, auch wenn einige Szenen sehr gelungen sind; etwa, als Franziska den Concierge (Nikolas Paryla) des Grand Hotels um den Finger wickelt, damit er Informationen über die anonymen Gäste der teuren Suiten rausrückt, oder als sie nach einem Streit mit Anni nackt auf den eiskalten See hinausschwimmt. Trotzdem hat es Molina nicht geschafft, aus Franziska eine Figur zu machen, die auch zur Identifikation einlädt, weshalb der Film keine wirkliche Sympathie für ihre Probleme wecken kann. Merana ist diesmal, als hätte es den ersten gemeinsamen Fall nie gegeben, ohnehin eher Gegen- als Mitspieler. All’ das hat die Jury des österreichischen Film- und Fernsehpreises „Romy“ jedoch nicht davon abgehalten, Molina für „Das dunkle Paradies“ in der Kategorie „Beste Regie TV-Fiction“ auszuzeichnen. Der ausgeprägte Dialekt könnte allerdings zur Folge haben, dass deutsche Zuschauer nicht alle Dialoge verstehen.
Das kann man auch a bisserl anders sehen:
Dass man „Das dunkle Paradies“ mit dem renommierten österreichischen Film- und Fernsehpreis ROMY 2020 für die Regie ausgezeichnet hat – das hätte nicht unbedingt sein müssen. Auch die Einladung zum diesjährigen deutschen Krimi-Fernsehfestival ist – vergleicht man ihn mit den Konkurrenzfilmen – vielleicht auch zu viel der Ehre. Für mich ist der Film von Catalina Molina allerdings ein rundes mindestens Vier-Sterne-Krimidrama. Darüber hinaus regt sich beim Lesen der Kritik von Tilmann Gangloff bei mir grundlegender Widerspruch.Für mich ist Identifikation nicht eine (universale) Voraussetzung für einen gelungenen Film; sie ist für mich vielmehr nur die historisch gesetzte Kehrseite einer Emotionalisierung um jeden Preis, die auch die öffentlich-rechtlichen Sender gegen Ende der 1990er Jahre im Zuge der kommerziellen TV-Movies zum dramaturgischen Status Quo gemacht haben. Auch ich habe beim Sehen zur Hauptfigur nicht wirklich Nähe empfunden, konnte ihr Handeln aber nachvollziehen, und dass sie nicht jedes Zuschauers liebstes Kind sein möchte, finde ich ausgesprochen sympathisch. Gleiches gilt für den vergrübelten, wenig gefälligen Kommissar, den Manuel Rubey verkörpert. Beide sind keine kriminalistischen Leuchten. Und das ist gut so. Superhirne und Top-Profiler gibt es genug im deutschen Fernsehen. Es hier außerdem mit einer „Heldin“ und Schauspielerin, Stefanie Reinsperger, zu tun zu bekommen, die nicht den herkömmlichen Schönheitsidealen entspricht, das ist einfach leiwand und ein gelungenes Beispiel für die derzeit nicht zu Unrecht vielfach geforderte Diversität von Filmfiguren. Und dass ein „Landkrimi“ einmal mehr Drama ist als klassische Mördersuche, also der Horror über die soziale Kontrolle auf dem Lande über die Niedertracht einer Tötung obsiegt, lässt sich in Zeiten der Krimiinflation bestens verkraften. Und das österreichische Prinzip „Goschen halten“ findet für meinen Geschmack sehr charmant Eingang in den gut inszenierten Film. R.Tittelbach