Das deutsche Kind

Murathan Muslu, Neshe Demir, Katrin Sass, Salisbury, Umut Dag. Brücken bauen

Foto: NDR / Daniela Incoronato
Foto Thomas Gehringer

Ein muslimisches Ehepaar gerät unverhofft in einen Sorgerechtsstreit mit den Großeltern eines Mädchens aus der Nachbarschaft. „Das deutsche Kind“ (NDR / Banana Tree Film) erzählt ernsthaft und bewegend, wie kulturelle und religiöse Differenzen einen familiären Konflikt anheizen – und wie sie dennoch überwunden werden können. Eine nicht immer glaubwürdig konstruierte Geschichte um Kindeswohl, Kopftuch & Moscheebau. Ungewöhnlich die Darstellung einer muslimischen Familie ohne die üblichen Klischees. Im Zentrum ein angehender Imam, der für einen aufgeklärten Islam steht, gespielt von dem sanften Riesen Murathan Muslu. In den Frauenrollen überzeugen Neshe Demir und Katrin Sass.

Die Ausgangsprämisse muss man als Zuschauer schlucken
Die Ausgangssituation dieses Familiendramas ist sicher nicht alltäglich: Die kleine Pia (Malina Harbort) wird zur Waise und soll nun bei den muslimischen Nachbarn leben statt bei den eigenen Großeltern. Das hatte ihre tödlich verunglückte Mutter im Testament so verfügt. Auf dem verminten interkulturellen Gelände gerät das Kindeswohl schnell ins Hintertreffen gegenüber Vorurteilen und Sprachlosigkeit. „Das deutsche Kind“ ist ein bewegender und ernsthafter Film mit einer sympathischen Botschaft. Zu Beginn muss man allerdings eine schwer nachvollziehbare Prämisse schlucken. Die alleinerziehende Natalie Unger (Petra Schmidt-Schaller) und die deutsch-türkische Familie Balta, was im Film so schön urdeutsch nach „Walter“ klingt, sind eng befreundet. Dass die Mutter nicht mit ihnen über Pias Zukunft im Falle des eigenen Todes gesprochen haben soll und beide stattdessen ungefragt als Vormunde einsetzte, ist schon ziemlich unglaubwürdig. Und warum Natalie ihre Eltern derart abstraft, bleibt lange offen und wird auch später nicht wirklich überzeugend begründet.

Das deutsche KindFoto: NDR / Daniela Incoronato
Die alleinerziehende Natalie Unger (Petra Schmidt-Schaller) hat Vorkehrungen im Falle ihres Ablebens getroffen, die für große familiäre Aufregungen sorgen werden.

Eine muslimische Familie jenseits der typischen Klischees
Drehbuch-Autor Paul Salisbury war ein anderer Blickwinkel wichtiger: „Ich wollte von der Mehrheit der Muslime erzählen, jenseits des dauerpräsenten Themas Extremismus. Von Menschen, die ihre zum Alltag gehörende Religion im positiven Sinne leben.“ Hauptfigur ist Cem Balta, der bald seinem Schwiegervater (Vedat Erincin) als Imam der Gemeinde folgen soll und der sich stark für den Neubau einer Moschee engagiert. Er steht für den moderaten Islam, dessen Gott „verzeihend und barmherzig“ ist. Cem predigt auf Deutsch, was bei den älteren Gemeindemitgliedern nicht auf Gegenliebe stößt. Der in Wien geborene Murathan Muslu, ein Mannsbild von eindrucksvoller Statur (weshalb er oft als Haudrauf besetzt wird) spielt diesen nachdenklichen Cem Balta als sanften Riesen. Während seine Frau Sehra (Neshe Demir) Pia unbedingt aufnehmen will, stimmt Cem erst nach einigem Zögern zu. Die Baltas haben selbst eine Tochter, Hanna (Sue Moosbauer), die etwas älter als Pia und mit ihr befreundet ist. Sie stehen für die Generation der in Deutschland aufgewachsenen Kinder türkischer Einwanderer. Zuhause wird akzentfrei Deutsch und bisweilen auch Türkisch gesprochen. Die Baltas sind sicher eine Vorzeigefamilie aus der Mittelschicht, aber an Gemüsehändlern, Kleinkriminellen und Islamisten mangelt es ja in Fernsehfilmen mit türkisch-stämmigen Figuren sonst nicht gerade. Man darf „Das deutsche Kind“ also als Einladung verstehen, eine andere Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen – jenseits der Klischees.

Das Kopftuch ist hier kein Symbol rückständigen Rollenverständnisses
Natürlich ist es auch hilfreich, dass man sich leicht mit der Familie identifizieren kann. Wenn zum Beispiel Cem die kleine, von Alpträumen geschüttelte Pia mit einem Blick durchs Teleskop zum Sternenhimmel beruhigt, ist das schon sehr berührend. Aber nicht rührselig, denn Regisseur Umut Dag inszeniert gerade die besonders emotionalen Momente leise, ruhig und ohne künstlich beigefügten Süßstoff. Außerdem spielen Muslu und Demir die liebevolle Fürsorge der Eltern herzerwärmend authentisch. Auch in Fragen der Religion dreht der Film den Spieß um: Die aufgeklärten muslimischen Adoptiveltern wollen Pia die Entscheidung selbst überlassen, an welchen Gott sie einmal glauben will – im Gegensatz zu den christlichen Großeltern. Und das Kopftuch, das Sehra in der Öffentlichkeit trägt, ist hier kein Symbol eines rückständigen Rollenverständnisses. „Ich trage mein Kopftuch, weil ich es will und nicht weil ich mich unterwerfe“, sagt Sehra in einer Schlüsselszene. Tatsächlich wird das Eheleben als Alltag weitgehend gleichberechtigter Partner erzählt. Noch überzeugender wäre es gewesen, wenn man Sehra auch einmal an ihrer Arbeitsstelle gesehen hätte.

Das deutsche KindFoto: NDR / Daniela Incoronato
Cem (Murathan Muslu) & Pia (Malina Harbort) beten gemeinsam. Die aufgeklärten muslimischen Adoptiveltern wollen Pia die Entscheidung selbst überlassen, an welchen Gott sie einmal glauben will – im Gegensatz zu den christlichen Großeltern.

Katrin Sass spielt die mit harten Bandagen kämpfende Großmutter
Da das Drehbuch von Paul Salisbury die Geschichte aus der Perspektive der Baltas erzählt, erleben – und erleiden – wir Zuschauer das Misstrauen (etwa von Pias Lehrerin) und die Abneigung, die ihnen entgegenschlagen, auch aus ihrer Sicht. Insbesondere Pias Großmutter, von Katrin Sass mit schneidender Kälte gespielt, mag sich nicht mit der testamentarischen Entscheidung der eigenen Tochter abfinden. „Und wir sollen so lange warten, bis sie eines Tages Kopftuch trägt, oder was?“, fragt sie im Streit mit den Baltas. Die Sorge um ihr Enkelkind ist nachvollziehbar, und die fremden- und islamfeindlichen Untertöne sind ja leider auch nicht allzu weit hergeholt. Die Energie, mit der sich Christina Unger in die Schlacht wirft, ist beachtlich. Ihr Gatte (Lutz Blochberger) assistiert allenfalls mit grimmigem Gesichtsausdruck. Die Großeltern haben ein Besuchsrecht an jedem zweiten Wochenende, lassen Pia heimlich taufen und legen vor Gericht Revision wegen des Sorgerechts ein. Der Konflikt eskaliert, als Christina Unger beim Info-Abend für den Moscheebau auftritt und Cem öffentlich vorwirft: „Dieser Mann hat uns unser Enkelkind genommen.“

Verzichtbare Vorblende, Brücken bauende Botschaft
Als zwei Drittel des Films vorüber sind, ist so ziemlich alles in die Brüche gegangen. Eine Verständigung über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg scheint nicht möglich. Und: Cem, der auch in der Gemeinde endgültig in Ungnade gefallen ist, hat kapituliert. Mit einer – eigentlich verzichtbaren – Vorblende wurde dies zu Beginn des Films bereits angedeutet. Auf das bis dahin schmerzhafte Lehrstück für das Scheitern interkulturellen Zusammenlebens folgt nun die Besinnung, die Katharsis. Dank einer klassischen Drehbuch-Wendung rückt das Schicksal Pias, an der beide Seiten buchstäblich gezerrt und gerissen haben, wieder in den Mittelpunkt. Das Schlussbild ist dann als Brücken bauende Botschaft ehrenwert, und auch wenn es vordergründig so aussieht, als hätten sich alle Konflikte etwas zu plötzlich aufgelöst, möchte man dem Film diese Art von Happy End aufrichtig gönnen. (Text-Stand: 15.3.2018)

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Der Streit der Familien wird immer heftiger und bald ist so ziemlich alles in die Brüche gegangen. Murathan Muslu, Neshe Demir, Katrin Sass, Malina Harbort, Blocherger

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Fernsehfilm

NDR

Mit Murathan Muslu, Neshe Demir, Katrin Sass, Malina Harbort, Sue Moosbauer, Lutz Blochberger, Vedat Erincin, Sahin Eryilmaz, Petra Schmidt-Schaller

Kamera: Andreas Thalhammer, XiaoSu Han

Szenenbild: Myriande Heller

Kostüm: Elisabeth Kesten

Schnitt: Harald Aue

Redaktion: Daniela Mussgiller

Produktionsfirma: Banana Tree Film

Produktion: Ulrich Stiehm

Drehbuch: Paul Salisbury

Regie: Umut Dag

EA: 04.04.2018 20:15 Uhr | ARD

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