Ein paar Sekunden reichen aus – und das Leben eines megaerfolgreichen Mannes steht auf der Kippe. Max van Veeren (Klaus Steinbacher) ist seine bessere Hälfte abhandengekommen: Nach einem Autounfall wurde seine Frau Anara (Marlene Tanczik) ins künstliche Koma versetzt, was den Frankfurter Software-Manager völlig aus der Bahn wirft. Ein millionenschwerer Deal mit einem Scheich (David A. Hamade) droht zu platzen. Was Max allerdings noch mehr verunsichert, ist die bittere Erkenntnis, dass seine Frau offensichtlich seit längerem ein Doppelleben geführt hat – mit Zweitwohnung und Drogen, außerdem ist sie schwanger. Max versucht, Ereignisse aus den letzten Monaten Revue passieren zu lassen. War die Party bei seinem Kollegen Patrick (Marcus Mittermeier) der Beginn der verhängnisvollen Entwicklung? Wer ist dieser verdächtige Mann im Krankenhaus (Tariq Al-Saies) und wo hat er ihn schon mal gesehen? Nach und nach reimt er sich aus den erinnerten Puzzleteilen ein erschreckendes Gesamtbild zusammen: Anara hatte eine Affäre mit Patrick, bekommt von ihm ein Kind und hat ihm, Max, deshalb die Schwangerschaft verschwiegen. In einem Club stößt er auf weitere mögliche Indizien und als sich herausstellt, dass der Unfall offenbar kein Unfall war, sieht Max völlig rot. Der einzige Mensch, dem er vertrauen kann und der seine Theorien nicht sofort als Hirngespinste abtut, ist Kollegin Saskia (Felicitas Woll), die ihm – nicht zuletzt wegen des gefährdeten Dubai-Deals – ihre Hilfe anbietet.
In dem ZDF-Fernsehfilm „Blindspot“ sucht ein Mann nach der Wahrheit. Dafür taucht er tief ab in die jüngste Vergangenheit seiner Ehe. Anfangs erinnert er sich an schöne Momente mit seiner attraktiven, selbstbewussten Frau, wird allerdings nach und nach darin bestärkt, dass Anara ernsthafte psychische Probleme gehabt haben muss. Und dann sind da die weniger schönen Augenblicke, beispielsweise jene Party bei dem Mann, der nicht nur sein Kollege, sondern auch sein Konkurrent ist. Und er erinnert sich an den auffälligen Flirt seiner Frau mit Robert. „Anara, eine ganz besondere Person“, sinniert dieser prompt auch später. Irgendwann reichen dann die Hinweise aus für die Affären-Theorie. Bei der Unfall-Sabotage-These dürfte allerdings doch allzu sehr die Phantasie mit Max durchgegangen sein. Das Prinzip dieser Erinnerungsarbeit: Sind erst mal Zweifel gesät, sind der Vorstellungskraft keine Grenzen gesetzt. Wahrnehmung ist subjektiv, und hat sich aus ihr ein Bild verfestigt, ist sie vor allem selektiv. Als Zuschauer folgt man gebannt dieser subjektiven Spurensuche der Hauptfigur. Man wird zum doppelten Zeichen-Leser, sucht Aufschlussreiches, in den erinnerten Rückblenden, die oft fließend aus den Szenen der Gegenwart hervorgehen, man kann aber auch nach Ungereimtheiten in den Bildern von heute suchen oder im zunehmend fahriger werdenden Verhalten jenes so gebeutelten Mannes.
Es heißt also genau hingucken bei diesem packenden Psychothriller – und hinhören auf die wenigen, umso bedeutsameren Dialogwechsel. Diese Frau hat ihren Mann offenbar erst vollständig gemacht. In den ersten Szenen, in der sich Max an sie erinnert, wirkt sie lebenslustig, lebendig, und doch hat er ihr diesen positiven Einfluss nicht immer gedankt („Die Miete für deine Galerie zahlen wir sowieso mit meinem Job“). In späteren Situationen spürt man noch deutlicher, dass etwas nicht mehr stimmt in dieser Ehe. Er: „Ich möchte nicht, dass du rauchst.“ Sie: „Und ich möchte nicht, dass du mich wie einen Teenager behandelst.“ Sowohl Drehbuchautor Marc O. Seng („Dark“, „Höllgrund“) als auch Regisseur Hannu Salonen setzen auf die Prinzipien Reduktion und Konzentration: ein angenehm überschaubarer Cast, eine markante Erzählperspektive, klare narrative Icons (Parfum-Flakon, Taser), ein modernes, kühles Design. Mainhattan lässt grüßen mit viel Glas, Licht oder dem Dunkel der Nacht. Weniger ist mehr gilt hier auf allen Ebenen. Auch die Farbpalette wird gern reduziert, mal strahlt alles aufregend monochrom, mal wird das Gesicht des Helden in ein düster-fahles blaues Licht getaucht, während Anara anfangs eher die helleren Töne gehören. Vom Styling her fühlt man sich an die Psychothriller der 1990er Jahre erinnert, auf die sich Regisseur Salonen auch beziehen wollte. Sein Look heute ist allerdings sehr viel edler als der in jenen kommerziellen Hochglanz-TV-Movies („Das ist dein Ende“, „Appartement für einen Selbstmörder“, „Mörderischer Zwilling“), die es allzu offensichtlich mit der Werbeästhetik aufnehmen wollten. In „Blindspot“ wird die Luxuswelt nicht behauptet, sondern atmosphärisch ins Bild gesetzt, ohne sie per se als kalt, böse und asozial zu charakterisieren.
Psychothriller führen den Zuschauer häufig an der Nase herum. Indem „Blindspot“ 75 Minuten aus nur einer Perspektive erzählt, um danach die Narration quasi auf den Kopf zu stellen, narren Seng und Salonen ihr Publikum ebenfalls. Aber bei ihnen ist es eine komplette semantische Umkehr des bisher Erzählten, ein stimmiger Bruch in der Erzähllogik im Großen, die Details aber sind nicht falsch, sie lassen sich nur auf der Zielgeraden anders lesen. Stichwort: subjektive Wahrnehmung. Es bleibt für den Betrachter durchaus etwas zum Rätseln und Nachbereiten, es bleibt aber nicht das Gefühl zurück, vom Erzähler völlig überrumpelt worden zu sein. Diese Doppelbödigkeit hat dramaturgisch tatsächlich mehr von einem Hitchcock-Simulacrum à la „Vertigo“ als von den Unlogik-Monstren aus der Psychothriller-TV-Küche. Dazu gehört auch, dass die Auflösung visuell erfolgt: Man schaut, lässt sich ein letztes Mal irritieren („Schön, dass du da bist“) und zieht seine Schlüsse. Oder man stellt Fragen: Ist es Zufall, dass die Software der Frankfurter Firma „einen Blick tief in die Seele“ verspricht, in die Wünsche, Träume und Ängste der Menschen? Weshalb dieses mimische Overacting von Klaus Steinbacher? Oder dieser seltsam künstliche Umgangston zwischen dem Ehepaar? Spielen die beiden nur Rollen? Ist das Teil einer Fassade? Man könnte noch Einiges mehr anmerken zu diesem enigmatischen Thriller. Aber jede Information könnte für den Vorab-Leser dieser Kritik eine Information zu viel sein. (Text-Stand: 15.3.2024)