Aus Haut und Knochen

Kling, Koroll, Mommsen, Schiewe. Wenn ein Mädchen langsam verschwindet

Foto: Sat 1 / Frank Dicks
Foto Tilmann P. Gangloff

Sat 1 greift mit seinen TV-Movies immer wieder mal relevante Themen auf. In dieser Tradition geht es in „Aus Haut und Knochen“ (Rowboat) um Magersucht: Ein Elternpaar fällt aus allen Wolken, als sich durch Zufall herausstellt, dass die 16jährige Tochter unter ihrer ausgestopften Kleidung klapperdürr ist. Der Vater wiegelt ab, die Mutter macht sich Vorwürfe. Das klingt nach Klischee, ist aber von Oliver Mommsen & Anja Kling ausgezeichnet gespielt. Das gilt nicht minder für Lisa-Marie Koroll. Die junge Schauspielerin hat 2019 die Hauptrolle der RTL2-Serie „Wir sind jetzt“ mit großer Natürlichkeit verkörpert und großen Anteil an der Qualität dieses rundum seriösen und auf jede Effekthascherei verzichtenden Films.

Die Warnsignale sind nicht zu übersehen; aber wer sie nicht kennt, kann sie auch nicht erkennen. Erst bricht Lara beim Joggen mit Kreislaufschwäche zusammen, dann entdeckt die Mutter im Zimmer der 16jährigen Tochter verschimmeltes Essen; außerdem legt Lara großen Wert darauf, dass die Eltern sie nicht mehr unbekleidet sehen. Mutter Susanne (Anja Kling) macht sich Sorgen, Vater Peter (Oliver Mommsen) wiegelt ab: Das Mädchen sei mitten in der Pubertät; sie könnten froh sein, dass ihre Tochter keine Drogen nehme. Umso größer ist der Schock, als die Wahrheit ans Licht kommt: Als aufgrund eines kindischen Streichs Lara beim Gartenfest der Nachbarn im Pool landet, droht sie zu ertrinken. Peter holt sie aus dem Wasser, Susanne hilft ihr aus den nassen Sachen und wundert sich, was ihre Tochter alles an hat; bis unter den Schichten ein erbarmungswürdig abgemagerter Körper zum Vorschein kommt. Nun beginnt die eigentliche Leidenszeit, aber nicht für Lara, sondern für ihre Eltern: weil sie erkennen müssen, dass ihre geliebte Tochter eine geradezu kriminelle Energie entwickelt.

Mit „Aus Haut und Knochen“ knüpft Sat 1 an die Tradition jener Dramen an, in denen der Sender regelmäßig relevante Themen aufgreift: In „Die Ungehorsame“ (2015) ging es um häusliche Gewalt, „Nackt. Das Netz vergisst nie“ (2017) handelte von einer Familie, die mit Nacktfotos ihrer Tochter erpresst wird. 2019 gab es gar eine Trilogie über K.o.-Tropfen („Lautlose Tropfen“), Stalking („Dein Leben gehört mir“) und Zivilcourage („Ein ganz normaler Tag“). Die Filme zeichneten sich durch hohe Seriosität und den Verzicht auf Effekthascherei aus. Für das Magersuchtdrama gilt das womöglich noch mehr, denn während bei den anderen Geschichten auch eine kriminalistische Ebene mitschwang, weil es Täter und Opfer gab, sieht das Drehbuch von Burkhardt Wunderlich ausschließlich Opfer vor: Wenn es den Eltern nicht gelingt, Laras langsames Verschwinden zu stoppen, wird sie sterben.

Aus Haut und KnochenFoto: Sat 1 / Frank Dicks
Die Mutter (Anja Kling) bekommt erst spät mit, wie dünn ihre Tochter (Lisa-Marie Koroll) ist. Die ersten Warnsignale überhört sie noch, später macht sie sich Vorwürfe, fühlt sich schuldig. Die abgemagerte Lara wurde von einem Body-Double verkörpert.

Neben den jederzeit glaubwürdigen darstellerischen Leistungen liegt die große Qualität des Dramas im Verzicht auf Belehrungen und Überfrachtung. Bei Themen dieser Art lauert stets die Gefahr, dass ein Autor alles unterbringen will, was er im Verlauf seiner Recherche an Wissen gesammelt hat; solche Geschichten wirken dann leicht wie ein adaptierter Wikipedia-Beitrag. Wunderlichs erstes verfilmtes Drehbuch war „Am Himmel der Tag“ (2012), ein berührendes Kinodrama mit Aylin Tezel als schwangere junge Frau, deren Kind im Mutterleib stirbt; später war er maßgeblich an der kafkaesken Komödie „Plötzlich Türke“ (2016) beteiligt. Zuletzt hat er für RTL2 „Wir sind jetzt“ (2019/20) geschrieben. Die Jugendserie erzählt sehr authentisch vom Lieben und Leiden einer 17jährigen Schülerin. Lisa-Marie Koroll verkörperte die Hauptfigur mit einer verblüffenden Natürlichkeit und konnte sich mit Hilfe der Serie erfolgreich vom Status des Kinderstars aus den „Bibi & Tina“-Kinofilmen emanzipieren. Als magersüchtige Lara ist sie noch besser, weil ihre Rolle gleichzeitig Protagonistin und Antagonistin ist: Einerseits soll das Mädchen Mitgefühl wecken, andererseits belügt und betrügt es die Eltern nach Strich und Faden. Die Schauspielerin kennt einige von Laras Erfahrungen aus erster Hand: Mit 16 litt sie unter einer krankhaften Fixierung auf gesunde Ernährung (Orthorexie); 2017 hat sie darüber ein Buch geschrieben („Lass Konfetti für dich regnen“). Die abgemagerte Lara wurde allerdings von einem Body-Double verkörpert.

Natürlich kommt „Aus Haut und Knochen“ nicht komplett ohne typische Lehrbuchbeispiele aus, aber Wunderlich hat sie sehr beiläufig integriert. Susanne entdeckt diese Phänomene nach und nach, als sie die Sachen ihrer Tochter durchsucht und dank ihrer Internetlektüre weiß, was es mit der Watte und dem Orangensaft auf sich hat: Menschen mit Essstörung – das Phänomen kann entgegen der landläufigen Meinung auch Jungs treffen – schlucken die in Saft getränkte Watte, um ihre Hungergefühle zu unterdrücken. Selbst beim täglichen Wiegen gelingt es Lara, die Eltern zu täuschen. Eine einfache, aber wirkungsvolle Einstellung genügt, um ihre Motive – ihre gestörte Selbstwahrnehmung – zu verdeutlichen: Als sie vor dem Spiegel steht, sieht sie sich selbst als stark übergewichtige junge Frau, obwohl sie in Wirklichkeit klapperdürr ist.

Aus Haut und KnochenFoto: Sat 1 / Frank Dicks
Ein Bild, das mehr sagt als informationsgesättigte Dialoge. Ein Bild, das sehr stimmig die gestörte Selbstwahrnehmung der anorektischen Heldin versinnbildlicht.

Ähnlich differenziert hat der Autor Susanne und Peter entworfen. Die beiden werden zwar mit warmen Wohlfühlbildern als perfektes Paar und liebevolle Eltern eingeführt, aber nicht nur ihre Beziehung bekommt im Verlauf des Films ein paar hässliche Kratzer: Susanne spioniert ihre Tochter ohne Rücksicht auf Intimsphäre aus, und Peter will lange nicht wahrhaben, was mit Lara los ist. Dass er selbst dann noch abwiegelt, als die Essstörung längst offensichtlich ist, mag ebenso klischeehaft wirken wie Susannes Reflex, die Schuld für Laras Magersucht bei sich selbst zu suchen, entspricht aber auch der Rollenverteilung in vielen Familien. Die Tochter weiß das geschickt zu nutzen, indem sie als Papas Liebling den Vater um den Finger wickelt und die Mutter als die Böse erscheinen lässt. Plausibel erklärt ist auch der Grund für die Krankheit: Lara sagt zwar mal, sie wolle „nicht so krass übergewichtig sein wie der Rest der Menschheit“, aber tatsächlich leidet sie unter einer Mutter, die immer das Beste für ihre Tochter wollte und das Mädchen selbst nicht zur Entfaltung kommen ließ.

Einige Nebenschauplätze sorgen für zusätzliche Komplexität; unter anderem verliert Peter, mit seinen Gedanken ganz woanders, beinahe seinen Job, weil er indirekt einen Arbeitsunfall verursacht. Lara besucht schließlich eine von Kameramann Felix Poplawsky in irritierendes Grün getauchte Therapiegruppe und freundet sich mit einer etwa gleichaltrigen Patientin an. Als das Mädchen stirbt, scheint auch Laras Schicksal besiegelt. Regisseurin Christina Schiewe hat bislang bevorzugt Komödien gedreht („Kinder und andere Baustellen“, ZDF 2020; „Lotta & der schöne Schein“, ZDF 2019; „Die HochzeitsVerplaner“, Sat.1 2017); ihr Regiedebüt „Be My Baby“ war ein Drama über die Selbstbestimmung einer jungen Frau mit Down-Syndrom. Alle ihre Filme haben sich vor allem durch die gute Arbeit mit den Schauspielern ausgezeichnet; das ist bei „Aus Haut und Knochen“ nicht anders. (Text-Stand: 8.11.2020)

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Fernsehfilm

Sat 1

Mit Anja Kling, Lisa-Marie Koroll, Oliver Mommsen, Vico Magno, Martin Armknecht, Madieu Ulbrich, Mareile Blendl, Paul Michael Stiehler, Levin Maus, Benjamin Grüter

Kamera: Felix Poplawsky

Szenenbild: Veronika Merlin

Kostüm: Tanja Gierich

Schnitt: Diana Matous

Musik: Colin Towns

Soundtrack: Jasmine Thompson („You Are My Sunshine“), Izzie Yardley („Because I Suffer“)

Redaktion: Patrick N. Simon

Produktionsfirma: Rowboat Film- und Fernsehproduktion

Produktion: Sam Davis, Kim Fatheuer

Drehbuch: Burkhardt Wunderlich

Regie: Christina Schiewe

Quote: 2,47 Mio. Zuschauer (7.9% MA)

EA: 01.12.2020 20:15 Uhr | Sat 1

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