Älterwerden ist nichts für Feiglinge. Von wegen. Anna Welsendorf (Katerina Jacob), Anfang 60, hat zwar – nach elf Jahren – ihre Anstellung in einer Parfümerie verloren, steckt aber voller Tatendrang. Ihre Jobaussichten sieht sie realistisch; also sucht sie sich einen Untermieter. Mit Werner Kurtz (Ernst Stötzner) hat sie sich einen solventen, aber auch eigenwilligen Zeitgenossen in ihre schöne Parterre-Wohnung mit Hinterhofoase geholt. Der ist zwar mit seinen 69 Jahren noch gut in Schuss, seinen Beruf, der Mann war Leiter des Ordnungsamts Köln Süd, kann er jedoch nur schwer verbergen. Dafür sieht er jedoch auch keine Veranlassung. Als Anna es bei ihrem Ehrenamt in der Telefonseelsorge mit einer jungen Frau zu tun bekommt, die sich offensichtlich das Leben nehmen will, hofft sie, auf die Verbindungen des ehemaligen Beamten bauen zu können. Der windet sich anfangs, willigt dann aber des lieben Friedens willen ein. Und so gelingt es Anna, sich an die Fersen von Saskia (Berit Vander), einer jungen Philosophiestudentin, zu heften, sie sogar kennenzulernen. „Sehr verzweifelt sie sie nicht aus“, findet Kurtz, aber ein paar Probleme hat sie doch zu schultern und dabei helfen ihr die beiden incognito. Auch wenn sich das Zusammenleben der zwei Oldies mit der Zeit einzuspielen scheint und ihre Hilfsaktion durchaus zunächst erfolgsversprechend ist, so sind die Ansichten der beiden jedoch so grundverschieden, dass jede Partei den Fortbestand ihres „Arrangements“ ernsthaft in Frage stellt.
Mit der Pensionierung oder der Arbeitslosigkeit auf den letzten Metern bis zur Rente bekommt der Lebensweg eine neue Richtung. Und es stellen sich neue Fragen. Wie sich die Suche nach dem Sinn des Lebens verändert und wie man auch im Alter immer noch ein wenig dazulernen kann – davon erzählt „Anna und ihr Untermieter“ höchst unterhaltsam und ohne pädagogischen Impetus. Der Untertitel „Aller Anfang ist schwer“ macht deutlich, dass die Degeto und die produzierende Firma Calypso Entertainment daraus gern eine Reihe machen würden. Gemeinschaft, vielleicht irgendwann Freundschaft, statt Liebe, das sind die Eckpfeiler der Geschichte, die nicht die in Degeto-Dramödien einst bevorzugte romantische Vorstellung vom zweiten Frühling bemüht. Und der „Fall“ wird vor allem genutzt, um die Unterschiede der Hauptcharaktere mehr und mehr herauszuarbeiten. Mögen die Gegensätze auch dramaturgisch gesetzt sein, die Meinungsverschiedenheiten halten sich in Grenzen. Im Alter lohnt es sich zwar nicht mehr, sich zu verstellen, wie der Ex-Beamte meint, der wenig Wert auf übertriebene Höflichkeit legt, aber etwas Rücksicht ist nicht verkehrt; außerdem versprechen sich ja auch beide gehörige Vorteile von ihrer Zweier-WG. Und so bleibt es bei einem launigen Gezänk, hinter dem sich psychologisch mehr verstecken mag, welches man vor allem aber als Zuschauer gern goutiert. „Es ist nicht tragisch, wenn im Leben mal was umkippt“, weiß Anna, nachdem sie Kurtz zum gemeinsamen Einkauf überreden konnte. Der reagiert unwirsch: „Ersparen Sie mir Ihre Weisheiten und meinen Polstern die Flecken.“
Erst im Verlauf der Handlung lässt Autor Martin Rauhaus die soziopathische Seite von Werner Kurtz deutlicher zu Tage treten. Zunächst ist dieser ältere Herr ein kauziger Eigenbrötler, der sehr zementierte Vorstellungen vom Leben hat und ziemlich rigide und schroff sein kann, was offenbar zu Spannungen mit seinem Sohn (Andreas Birkner) und seiner Schwiegertochter (Camilla Renschke) führt. Kommunikation ist ihm nicht so wichtig wie Anna, die ein eher entspanntes Verhältnis zu ihrer Tochter (Katharina Schlothauer) pflegt, nicht zuletzt, weil sie als Mutter auf Harmonie bedacht ist – und sie deshalb immer wieder ohne Murren gern als „Babysitter“ einspringt („natürlich kann ich sie nehmen“). Das Helfen ist zu ihrer zweiten Natur geworden. Bei der Telefonseelsorge ist diese Frau goldrichtig, findet ihr Untermieter, der sich nur schwer anfreunden kann mit ihrem offensichtlichen Helfer-Syndrom. Dieses tritt – wie die Einsamkeit von Kurtz‘ – erst mit der Zeit als mögliches Manko in Erscheinung. Dann aber umso deutlicher. Und ihr Noch-Untermieter tritt noch nach: „Man kann Menschen nicht helfen. Menschen machen Fehler. Menschen müssen Fehler machen.“ Ihr Engagement tut er ab als „menschlich sehr achtenswert, aber hoffnungslos naiv“. Später relativiert Kurtz – seine eigenen Defizite erkennend – indirekt seine Meinung: „Es tut gut, wenn da wenigstens ein Mensch ist, der irgendetwas zu verstehen scheint.“ Rauhaus tut das Helfer-Phänomen nicht einseitig ab. Damit würde er doch zu deutlich gegen das Genre schießen, das auf dem ARD-Freitag-Sendeplatz sein Zuhause gefunden hat und ohne welches es diesen Film wohl nicht geben würde. Aber immerhin macht „Anna und ihr Untermieter“ das Helfer-Syndrom ein Stück weit selbstreferentiell zum Thema, statt es nur selbstironisch aufzuspießen (wie es „Billy Kuckuck“ in der zweiten Episode tat oder gelegentlich auch die „Frühling“-Reihe im ZDF). Der Autor wählt zudem eine kluge narrative Konstruktion, die an dieser Stelle noch nicht verraten werden kann, um nicht in die typische Helfergenre-Falle zu tappen.
Rauhaus liefert seit fast 30 Jahren mit seinen Drehbüchern zumeist gute bis sehr gute Unterhaltung („Familie Windscheidt“ / „Hotel Heidelberg“) und bisweilen besitzen seine Geschichten auch eine unaufdringliche Portion Tiefgang. Erinnert sei an Filme wie „Die Diebin und der General“, „Nichts für Feiglinge“, „Und alle haben geschwiegen“, „Familienfest“, „Endlich Witwer“. Seine Plots sind oft kleinen Alltagsdramen nachempfunden; wird es thematisch gewichtiger (Krankheit, Tod, Misshandlung), bricht der 62-Jährige seine Geschichten herunter auf überschaubare menschliche Konstellationen. Das Herzstück seiner (Qualitäts-)Drehbücher sind die Worte, die er seinen Charakteren in den Mund legt, insbesondere seine lebensklugen Dialogwechsel. Auch in „Anna und ihr Untermieter“ sind es die alltagsnahen Sätze und (nie zu) pointierten Repliken, die den Figuren Charakter und dem Film seinen Tonfall geben. Für eine angemessene Inszenierung sorgt Grimme-Preisträger Ralf Huettner („Vincent will Meer“ / „Kühn hat zu tun“) – unter anderem auch dadurch, dass er den Gegensatz von Optimismus und Pessimismus (bzw. Depression) mit extremen Hell-Dunkel-Kontrasten ästhetisch stimmungsvoll umsetzt, was am „Endlich-Freitag“-Sendeplatz im Ersten ja nicht unbedingt üblich ist. Was auch ein Weg in die richtige Richtung ist: Die Helfer-Handlung wirkt eher wie Mittel zum Zweck. Wer glaubt auch heute noch, mit Helfergeschichten, etwas moralisch Wertvolles zu erzählen? Und wer hält sie womöglich noch für hochwertiger als ein Stück populäre Genre-Unterhaltung? Das wäre noch naiver als das Engagement der weiblichen Hauptfigur. So wie in dieser Dramödie kann es funktionieren, das Narrativ vom Helfen. Doch wichtiger ist die Geschichte dieser beiden unfreiwillig ins Rentendasein versetzten Hauptfiguren, diesem pingeligen Technokraten und dieser gutmeinenden Hobbygärtnerin. Ein bisschen frecher und unverblümter die Probleme des Älterwerdens ansprechend – man denke nur an die Netflix-Serien „The Kominsky Method“ oder „Grace & Frankie“ – könnte man sich „Anna und ihren Untermieter“ schon vorstellen. Aber der Untertitel sagt’s: „Aller Anfang ist schwer“. Hoffen wir also auf mehr.