Amelie (Marie Bloching) ist ein ganz normales Zimmermädchen, das sich vom Boss (Bernhard Schütz) herumschubsen lässt und sich mit Room-Service ein paar Euro dazuverdient: Koffereinpacken in der traditionellen Berufsbekleidung mit Röckchen und Schürze, da juchzt und schluchzt so mancher Sugardaddy vor Freude. Weniger höflich benimmt sich ein jüngerer Hotelgast (Laurence Rupp): der lässt sich nicht abschütteln, folgt ihr bis in die Teeküche und vergewaltigt sie dort. Die Begleiterscheinungen – das Inventar explodiert, es holtert & poltert – versteht Amelie erst, als sie Anzeige erstatten will, fluchtartig und aufgewühlt die Polizeiwache verlässt und unmittelbar danach von einem Mann daran gehindert wird, kopflos auf die Straße zu rennen. Sie verfügt plötzlich über eine Superkraft: Sie hat Visionen und erkennt Vergewaltiger und jede Art von Männern, die sich gegenüber einer Frau sexuell zu viel herausnehmen. Eine Berührung reicht aus – und schon explodieren Flaschen, oder es fliegt ihr und jenen Machos Geschirr um die Ohren. Wenigstens ist Tristan (Bless Amada), ihr schwuler Kumpel, clean. Ihre Superkraft, von der sie nur noch ihrer Callgirl-Freundin (Shakiba Eftekhari-Fard) und ihrer Vorgesetzten (Jasmin Shakeri) erzählt, ist für sie zunächst mehr Fluch als Segen. So viele Vergewaltiger – schrecklich! Wenn schon die Polizei und die Gerichte versagen, will zumindest sie etwas tun. Die Kraft dafür hat sie.
Einzigartiger Name + Trauma = Superheldin. So denkt sich Amelie ihre fabelhafte Welt. „Angemessen Angry“, so der Titel dieses etwas anderen RTL-Serien-Kleinods, das 2022 dem Nachwuchswettbewerb „Storytellers“ entsprungen ist, bringt ihre Haltung und Stimmungslage präzise auf den Punkt. Anfangs geht ihr der Feldzug gegen die Täter leicht von der Hand. Dank des Kostümfundus von ihrer Oma (Christiane Ziehl) ist sie auf der sicheren Seite, bleibt unerkannt bei ihren Attacken gegen schnöselige Sexualstraftäter, die bisher davongekommen sind. Bei Rapper Yung Pesto (Bardo Böhlefeld) gelingt ihr das in der zweiten Folge noch nicht so gut: Der populäre Musiker und Social-Media-Experte verkauft am Ende das „Ich bin ein Vergewaltiger“-Video als Aufklärungsaktion in Sachen K.o.-Tropfen – und seine Fanbase folgt ihm. Aber auch Amelie, die sich #Hysteria nennt, schart bald jede Menge User & Friends um sich, selbst die bürgerlichen Medien berichten über das neue Internet-Phänomen. Erfolgreicher ist die Rächerin der Gedemütigten und Vergewaltigten nach einer Burschenschafts-Party: Ihr Opfer ist der Neffe ihres Chefs (Gustav Schmidt). Ein Geständnis vor laufender Kamera – für die wütende Amelie ist dies die größte Genugtuung. Doch dann übertreibt sie es mit dem Ausleben ihrer Allmachtsphantasien. Schnipp-schnapp, es wird blutig.
Es war an der Zeit, nach herausragenden jung & frisch erzählten Dramen wie „Nichts, was uns passiert“ oder „37 Sekunden“ (beide 2023) endlich auch hierzulande das Thema Vergewaltigung an ein populäres Genre zu übertragen, es zielgruppengerecht als Dramedy, also ernsthaft & leicht zugleich, zu erzählen. Wie es der Zufall will, gibt es in diesem Monat außerdem noch das Primetime-Drama „Am Ende der Wahrheit“ (ARD) mit Maria Furtwängler, in dem deren Figur von dem charmanten Sohn ihrer besten Freundin vergewaltigt wird, und die weniger gelungene Serie „Bad Influencer“, in der eine öffentlich gedemütigte junge Frau medial zum feministischen Gegenschlag ausholt. „Angemessen Angry“ dagegen ist eine dicht und stringent, zugleich originell und ideenreich erzählte Serie, die auch filmisch zu überzeugen weiß. Es gibt keinerlei Leerlauf, und jede zweite Szene ist ein Knaller und bleibt im Gedächtnis. Allein wie Hintergrundinformationen in den Handlungsfluss eingebaut werden, ist kleine große Erzählkunst: Auf die Frage, warum Amelie keine Anzeige erstattet habe, ploppen im Bild Meldungen auf vom im Sand verlaufenden Metoo-Fällen und verlorenen -prozessen. Auch die Einbettung von Social-Media-Videos hat man selten so flott und abwechslungsreich gesehen. Das Highlight aber ist eine Gerichtsverhandlung, die fließend übergeht in eine „Wer wird Millionär?“-Parodie mit dem Titel „Wer wird freigesprochen?“, bei der toxische Jungmänner als Kandidaten Fragen zum Thema Vergewaltigung gestellt bekommen. So erfährt man, dass nur 10 Prozent dieser Gewalttaten zur Anzeige gebracht werden und davon nur 8 Prozent mit einer Verurteilung enden. Nach dem launigen Einschub geht es zurück in den Gerichtssaal, wo die Schnösel aus reichem Haus freigesprochen werden.
Die Heldin hat zwar Superkräfte. Aber gegen eine solche Statistik und die Übermacht der Männer ist schwer anzukämpfen. Oma bringt’s mal wieder auf den Punkt: „Es ist vielleicht nicht jeder Mann ein Sittenstrolch, aber jeder Mann ist mit einem befreundet, verwandt oder zusammen.“ Es ist so ähnlich wie im Horrorfilm oder wie in einer dieser Invasions-Dystopien: Sie sind überall, diese kleinen und großen Monster. Bei kaum einem Mann kann man sich noch sicher sein. Sogar der neue Partner (Martin Bruchmann) von Amelies bestem Freund entpuppt sich als übergriffiger Narzisst. Das alles schürt Ängste. In der vierten der fünf Folgen droht die Heldin, dem Wahnsinn zu verfallen: „Stell‘ dich nicht so an“ – „Finger weg!“ – „Nein!“ Wo sie hinschaut, wo sie hinhört – überall dieselben Worte, dasselbe Gerangel. Da hilft nur Ironie („Wenn sie nein sagt, dann muss man halt kämpfen, das hat man schon im Kindergarten gelernt“) oder eine Beißzange. Wie weit wird die Heldin mit ihrer Form der Selbstjustiz gehen? Wie kommen die Autorinnen Elsa van Damke (auch Regie) und Jana Forkel aus diesem cleveren Genre-Konstrukt heraus? Und was haben Amelies Vergewaltiger und die Leiterin ihrer Selbsthilfegruppe (Odine Johne) gemeinsam? Solche Fragen erhalten die Plot-Spannung. Doch der wesentlichere emotionale Flow resultiert aus der Nähe zur Heldin und deren sehr überzeugenden Darstellerin Marie Bloching („Die Discounter“), die immer wieder mal mit Blicken in die Kamera sich der Komplizenschaft mit den Zuschauerinnen versichert. Ob ihr das wohl helfen wird im Showdown mit ihrem Vergewaltiger?