Rio Reiser und die Band Ton Steine Scherben lieferten in den 70er Jahren den Soundtrack zur Berliner Hausbesetzer-Szene. Ihre Polit-Gassenhauer „Keine Macht für niemand“ oder „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ gaben zugleich der Protestbewegung ihre Parolen. Es war vor allem Reiser, der mit seiner gelebten Intensität die Menschen mitriss. Ekstatisch – und deutsch – sang er von Liebe und Lüge, von Umsturz und Freiheit. Mit seiner verwaschenen, rauen Stimme sang er sich, nachdem sich durch die ständigen Solidaritätsauftritte der Band ihre Schulden auf einige 100.000 DM angewachsen waren, zum „König von Deutschland“. Der stets höchst eigenwillige Reiser, der 1996 mit nur 46 Jahren an einem Herz-Kreislauf-Versagen starb, gilt als einer der Gründerväter der deutschsprachigen Popmusik.
„Was ich nicht selber überprüft habe – das glaube ich nicht mehr“, sagte er in einem Interview, kurz nachdem er seinen Solohit „Alles Lüge“ veröffentlicht hatte. „Alles Lüge – Auf der Suche nach Rio Reiser“ heißt auch der Film, den die Dokumentarfilmerin Barbara Teufel im Rahmen der „Debüt-im-Dritten“-Reihe gedreht hat. Es ist ein Doku-Drama, das den Lebensweg des charismatischen Rockmusikers nachzeichnet. Auf drei Erzählebenen konfrontiert Teufel den Zuschauer mit dem Sänger und seiner Wirkungsgeschichte. Zahlreiche Konzertmitschnitte und Interviews rekonstruieren den geistigen Horizont jener Jahre, als in Berlin noch der linksalternative Bär tobte, und zeigen auf, welche Veränderungen Reisers Denken über die Jahre nahm. Die fiktionale Handlung des Films teilt sich auf in geprobte Szenen eines Theaterstücks über Rio Reiser und die privaten Geschichten derer, die das Stück auf die Bühne bringen wollen. Reisers Schicksal holt das Team ein. Das Geld wird knapp und weil die Konzentration nachlässt, bezieht das Ensemble „wie damals“ die Scherben das Gut Fresenhagen, die Stätte, in dessen Garten der Künstler begraben ist. Hier kommt Rio-Darsteller Nick seiner Rolle, dem homosexuellen Reiser, zu nahe. Freundin Julia sieht ihre Liebe schwinden. Und der Regisseur kommt kaum noch zu Rande mit Nicks Wutausbrüchen.
„Alles Lüge“ zeigt, wie sich die Realitätsebenen in künstlerischen Prozessen verwischen können. Das gerät gelegentlich etwas prätentiös und ist nicht ganz unanstrengend für den Zuschauer. Grenzwertig sind die Figuren privat; gewöhnungsbedürftig ist vor allem das zwanghafte Zur-Schau-Stellen innerer Befindlichkeiten. Schauspielerisch ist das eine Gratwanderung, die Jana Pallaske („alaska.de“) ansehnlicher meistert als Marek Harloff. Das liegt auch an den Rollen. Nick ist ein unerträglicher Narziss, Julia dagegen ist die einzige im Ensemble, für die soziale Verantwortung kein intellektuelles Lippenbekenntnis ist. Damit kommt sie dem echten Rio Reiser am nächsten und ist neben dem stimmig montierten Doku-Material ein Lichtblick in Barbara Teufels Film. (Text-Stand: 10.9.2007)