Anders als der bayerische „Depp“ oder der norddeutsche „Döspaddel“ ist „Tschappel“ im Schwäbischen keine Beleidigung, sondern durchaus liebevoll gemeint. Carlo zum Beispiel ist zwar sympathisch, aber auch ein bisschen tapsig und naiv; deshalb steht er sich regelmäßig selbst im Weg. Dass er die Dinge eher selten vom Ende her betrachtet, mag seiner Jugend geschuldet sein, doch dass im Grunde alles schiefgeht, was er anpackt, wirkt eher wie eine Laune des Schicksals. Menschen wie er eignen sich besonders als Filmhelden, weil es umso eindrucksvoller ist, wenn sie angesichts großer Herausforderungen über sich hinauswachsen. Carlo allerdings droht eher, sogar noch zu schrumpfen, denn nach bestandenem Abitur zerschellt der Traum, seiner unerklärten Liebe Pia für ein „Work & Travel“-Jahr nach Australien zu folgen, an einem Baum: Weil er Vaters historischen Daimler geschrottet hat, muss er in der elterlichen Wirtschaft seine Schulden abstottern.
Foto: ZDF / Conrad Lobst
Das ist der Auftakt einer achtteiligen Serie, deren Kurzweiligkeit nicht nur mit der Dauer der jeweils knapp 25 Minuten langen Episoden zusammenhängt: Vor allem zu Beginn brennen Marius Beck (Buch), Marc Philip Ginolas (Buch und Regie) sowie Carly Coco (Regie) ein regelrechtes Feuerwerk ab. Das gilt auch für die Handlung mit ihren vielen überraschenden Richtungswechseln, aber vor allem für die Machart. Der geradezu verschwenderische Umgang mit dem Bildmaterial wird ohnehin mehr und mehr zum Markenzeichen von „Tschappel“: Anstelle von Rückblenden zeigt das Trio oft bloß einen meist nur aus drei Schnappschüssen bestehenden Fotoroman. Dieses Stilmittel sorgt regelmäßig für heitere Effekte, weil die Aufnahmen wahlweise konterkarieren oder aufschlussreich ergänzen, was sich in der Gegenwart tut. Die Bildgestaltung mit ihren gern ausgefallenen Perspektiven (Kamera: Conrad Lobst) trägt ebenfalls ihren Teil dazu bei, dass „Tschappel“ mehr als sehenswert ist.
Soundtrack:
Wir sind Helden („Von hier an blind”, Vorspannlied), Beastie Boys („Sabotage“), Robbie Williams („Angels”), Men at Work („Down Under”), Green Day („Boulevard Of Broken Dreams”), Linkin Park (Given Up”), Rage Against the Machine („Guerilla Radio”), 50 Cent („P.I.M.P.”), Elvis Presley („A Little Less Conversation”), The Crystals („Then He Kissed Me”), The Rolling Stones („Dead Flowers”), blink-182 („I Miss You”), Avril Lavigne („Sk8er Boi”), Bobby Vinton („Blue Velvet”), The Jam („That’s Entertainment”), ZSK („Antifascista”), Motörhead („God Was Never On Your Side”), Sonny & Cher („I Got You Babe”), Oasis („Whatever”)
Foto: ZDF / Conrad Lobst
Gerade die komprimierte erste Folge setzt jedoch auch einen hohen Maßstab: Drei Schnitte genügen, um eine Geschichte zu erzählen; dieses hohe Tempo bleibt im weiteren Verlauf etwas auf der Strecke, was nicht zuletzt an den veränderten Rahmenbedingungen liegt: Durch den Abschied von Pia verliert die Serie nach Folge 4 die weibliche Hauptfigur und mit Grimme-Preisträgerin Mina-Giselle Rüffer („Druck“, 2021) auch ein wichtiges Ensemblemitglied. Sehenswert bleibt „Tschappel“ dennoch, selbst wenn die Gestaltung fortan nicht mehr so übermütig ist wie anfangs, als sich Leben und Streben von Carlo (Jeremias Meyer) einzig um die Liebe drehen. Die Provinzgeschichten sind allerdings ausnahmslos originell und witzig, wofür unter anderem seine feierfreudige Tante (Nina Gnädig) sorgt. Erst verschaffen Carlo sowie seine von Sebastian Doppelbauer und David Ali Rashed ähnlich überzeugend verkörperten Kumpane Niklas (wegen seines Redeflusses „Blabla“ genannt) und Aydin ihrem verschlafenen oberschwäbische Heimatdorf im Landkreis Ravensburg ein ziemlich ungewöhnliches Freibad, später besetzen sie das heruntergekommene Haus eines verstorbenen Hitler-Verehrers. Prototypisch für die verblüffenden Richtungsänderungen der Ereignisse ist das Ende von Folge eins, als Blablas eigentlich cleverer Plan, mit Hilfe eines toten Schweins einen Wildunfall vorzutäuschen, an einem unerwarteten Detail scheitert.
Zu den mit viel Liebe ersonnenen und umgesetzten Kleinigkeiten gehören gelegentliche Fußnoten, die unter anderem erklären, was eine „ABS“ ist („Leberkäswecken mit a bissle Senf“). Ein nachrichtliches Intermezzo informiert über das elterliche Urteil („work ohne travel“). Witzig ist auch eine winzig kleine Gastrolle von Harald Schmidt als Urologe, der an Carlos Glocken klingelt. In der zweiten Serienhälfte mischen ohnehin einige Gäste mit, die für zusätzliche Dynamik sorgen, allen voran Tijan Marei als Tankstellenaushilfe, die Carlo ziemlich süß findet; der Sex in seinem Elternhaus scheitert jedoch mit Ansage. Als ein Thekenfaktotum das Zeitliche segnet, erfüllen seine Freunde (Paul Faßnacht, Martin Umbach) ein Versprechen, das sie ihrem alten Kameraden vor fünfzig Jahren gegeben haben; in der Rückblende werden die drei von Carlo und seinen Kumpanen verkörpert. Ein wichtiges Element sind die vielen meist in Bezug zur Handlung eingesetzten Popsongs, und natürlich spielt auch der ausgeprägte Dialekt eine entscheidende Rolle. Im Schwabenland wird man zwar kritisch monieren, dass einige der Mitwirkenden keine Einheimischen sind, aber außerhalb Württembergs merkt das niemand.
Foto: ZDF / Conrad Lobst