Ein Dorf in der baden-württembergischen Provinz, inmitten idyllischer Weinberge. Eine junge Frau ist vom Joggen nicht heimgekehrt. Zahlreiche Freiwillige aus dem Ort helfen bei der Suche mit. Für die Kriminaloberrätin Barbara Kramer (Nina Kunzendorf) und Hauptkommissar Thomas Riedle (Tilmann Strauß) besteht die Sorge, dass mögliche Indizien zertrampelt würden. Am fünften Tag wird die Leiche der Frau im Wald gefunden. Sie ist seit 72 Stunden tot, und die Spurenlage wegen der Witterung schlecht. Die Tat ist sexuell motiviert, Fremd-DNA kann allerdings erst später nachgewiesen werden. Im Dorf hofft man, dass es ein „Zufallstäter“ von auswärts ist. Das würde bedeuten, dass es die auf 40 Beamte aufgestockte Soko mit einer Langstreckenermittlung zu tun bekommen dürfte. Als Erstes wird eine Speichelprobe des jungen Witwers (David Richter) genommen. Als Täter ist der zunächst auszuschließen. Vor allem Riedle, der im gleichen Dorf wohnt wie die Familie des Opfers, fällt es nicht leicht, in seinem Lebensumfeld zu ermitteln. Kramer, lange Jahre in Berlin tätig, schwört ihn und das Team jedoch schnell auf absolute Objektivität ein. Die Faktenlage bleibt dünn: Tatwaffe unbekannt, Zeugenaussagen unbrauchbar. Und dann wird in 30 Kilometer Entfernung eine weitere junge Frau ermordet aufgefunden. Ein Wiederholungs- oder gar Serientäter? Die Spurenlage jedenfalls ist diesmal günstiger.
Foto: SWR / Luis Zeno Kuhn
„Spuren“ ist eine Krimiserie abseits der Mord-und-Totschlag-Routine, die sich seit Jahren im deutschen Fernsehen breitgemacht hat. Dem Täter wird keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt, die Tat ausgespart, und auch die Opfer und Hinterbliebenen, die in Krimi-Dramen öfter in den Fokus gelangen, sind hier nur von Belang, soweit sie für die Ermittlungen relevant sind, zum Beispiel selbst in Verdacht geraten. Das Autorenduo Robert Hummel und Martina Mouchot hat die Geschichte, die sehr frei an das Sachbuch „Soko Erle“ von Walter Roth angelehnt ist, von vornherein ganz auf die Polizeiarbeit konzentriert. Die Perspektive der Sonderkommission wird zu keiner Zeit verlassen. In einer vorübergehend eingerichteten, improvisierten Polizeistation muss das aus verschiedenen Regionen zusammengewürfelte Team über ein halbes Jahr zusammenarbeiten. Der Ermittlungsalltag ist Sisyphus-Arbeit an und um den Tatort herum, Tatwaffensuche, Vorortgespräche, viel Telefoniererei. Es ist die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Beim zweiten Mord hat das Team das Glück des Tüchtigen – und findet am Tatort ein Haar in der Hecke. Polizeiarbeit, das zeigt diese ARD-Serie, ist kleinteilige Spurensuche, minutiös, mühsam, kombiniert mit Logik, forensischer Präzision, und etwas gesunder Menschenverstand kann auch nicht schaden.
Der Faktor Zeit bei den Ermittlungen lässt sich nur spürbar vermitteln, indem man ausreichend Erzählzeit (= Sendezeit) zur Verfügung hat – will man die Anstrengung der Ermittlungsarbeit, die Langsamkeit dieses Prozesses, die Ausdauer, das positive Denken, das man braucht, um sich trotz trostlosen Erkenntnisstands weiterhin zu motivieren, nicht nur behaupten, sondern auch in Bild und Ton realistisch, aber eben auch sinnlich vermitteln. Dass dies nicht Langatmigkeit oder Langeweile beim Zuschauer nach sich ziehen muss, zeigt „Spuren“ auf eindrucksvolle Weise. Die 180 Minuten sind die perfekte Länge für den Stoff. Der Fall wird heruntergebrochen auf die Mikrostrukturen des Ermittelns, das, was in einem Reihenkrimi der fleißige Assistent im Off herausfindet und was er mal eben schnell an die Hauptkommissare simst. „Nichts ist zu klein, um nicht gedacht zu werden.“ Sieht man die Mitarbeiter mit Lupe & Pinzette die Flora abgrasen oder sieht man sie beim Abgleich von 50.000 Datensätzen verzweifeln, versteht man, was Kramers Satz bedeuten kann. Besonders ausdrucksstark ist eine Szene zu Beginn der letzten Folge: In der wähnt man sich weniger in einer Soko als vielmehr in einem improvisierten Callcenter.
Foto: SWR / Luis Zeno Kuhn
Die Köpfe der Sonderkommission sind auch die Identifikationsfiguren der Serie. Das funktioniert wie in jeder fiktionalen Filmerzählung – und doch völlig anders. Die Charaktere, die Nina Kunzendorf und Tilman Strauß verkörpern, führen den Zuschauer durch die Geschichte. Aber weil die Geschichte auf überdeutliche Plot-Points, auf Dramatisierung und klassische Spannungsmomente verzichtet, nimmt man diese beiden Hauptfiguren völlig anders wahr: als Menschen, nicht als Vertreter eines Genres. Und das, obwohl Privates außen vor bleibt. Persönliches, auf die Arbeit bezogen, gibt es schon: Man sieht gelegentlich, was die Soko mit den verschiedenen Figuren macht. Kramer zeigt es weniger, Riedle mehr und bei den anderen lässt sich erkennen, wie der Fall Besitz von ihnen ergreift, wie die eigenen Befindlichkeiten zugunsten der Soko zurücktreten, wie aus einem Job eine Obsession wird, aus Erfüllungsgehilfen engagierte Polizisten. Alles im Rahmen stimmig dargestellter Ermittlungsarbeit. Und auch die Gruppendynamik kommt nicht zu kurz.
„Im Unterschied zu herkömmlichen Krimis ging es uns um die akribische, echte und dabei auch mühsame, schleppende und enervierende Detailarbeit: DNA ist nicht in wenigen Stunden analysiert, Tatorte unterliegen mannigfaltigen Einflüssen, viele Zeugenaussagen sind nicht zu gebrauchen, zahlreiche Spuren erweisen sich als Sackgassen.“ (Robert Hummel & Martina Mouchot, Buch)
„Eine wirklichkeitsnahe Darstellung von Polizeiarbeit beinhaltet neben Phasen großer Anspannung und Euphorie auch Phasen der Ratlosigkeit und Erschöpfung. Diesen Gegensatz herauszuarbeiten, in den Gesichtern der Darsteller:innen emotional nachvollziehbar zu machen, um daraus eine flirrende Spannung zu generieren, war für mich entscheidend.“ (Stefan Krohmer, Regie)
Foto: SWR / Luis Zeno Kuhn
Hummel und Mouchot haben den Figuren, allen voran der Chefin und ihrer rechten Hand, eine präzise verknappte Alltagssprache in den Mund gelegt. Der Heimatdialekt bei Strauß, den Dorfbewohnern und einigen aus dem Soko-Team (deren Schwäbisch bei jedem etwas anders klingt) und die wohlüberlegte Kombination mit einer diversen Besetzung, die absolut stimmig ist und nicht nach Quotenerfüllung riecht, gehören zu den dicksten Pluspunkten. Dass aber auch die stets glänzende Kunzendorf in einer Rolle wie der angenehm pragmatischen Kommissarin mit realitätsnahem Grundton und ohne Anflug menschelnder Verbindlichkeit besonders brilliert, sollte erwähnt werden. Loben muss man ebenso die tragenden, wenig bekannten Nebendarsteller wie Aliki Hirsch, Božidar Kocevski, Atrin Haghdoust und David Richter – aber auch Casterin Nina Haun, die damit den Realismus-Anspruch der Macher besetzungstechnisch getroffen hat.
Und wer könnte eine solche Geschichte besser in Szene setzen als Stefan Krohmer. Konventionelle Krimis sind von ihm nicht zu erwarten. Der Regisseur, der intime Situationen wie Familieninteraktionen gern zu vielschichtigen Gesellschaftsspielen macht und der – egal welcher Stoff – stets die Zwischentöne sucht, ist für das Eintauchen in die komplexen Ermittlungssituationen und für die Innenansicht einer solchen Sonderkommission, eine Art Familie auf Zeit, eine ideale Wahl. Ähnlich wie Kunzendorf bevorzugt auch er eine gewisse Distanz zum Geschehen. Gefühle ja, beim Ehemann oder dem Vater des Opfers, auch bei den emotional Betroffenen im Team, aber nicht ungefiltert in Erzählhaltung und Inszenierungsstil. Die meisten Szenen wirken so, als gehe man gerade in sie hinein – als Beobachter. So entsteht ein unaufdringlicher, narrativer Flow. „Spuren“ erzählt sich wie viele Werke, die dem Realismus verpflichtet sind, quasi wie von selbst. Der Zuschauer bekommt einen guten Überblick, wird sehr viel weniger manipuliert als in einem Durchschnittskrimi – auch filmisch: Es gibt verhältnismäßig viele (Halb-)Totalen. Bleibt abzuwarten, ob die, die bei jedem Krimi, der kreativ & fantasievoll mit dem Genre spielt, „unrealistisch“ oder „unglaubwürdig“ schreien, mit dieser Form des sachlichen, wunderbar undramatischen Erzählens zufriedener sind.