Polizeiruf 110 – Nur Gespenster

Sarnau, Beckmann, Judith Engel, Astrid Ströher, Andreas Herzog. Wiederauferstehung

Foto: NDR / Christine Schroeder
Foto Rainer Tittelbach

Für übermäßig empfindliche Gemüter dürfte der „Polizeiruf 110 – Nur Gespenster“ nicht geeignet sein. Der Tatort zeugt von purem Sadismus. Möglicherweise ist in Rostock ein Racheengel am Werk. Nicht ohne Grund werden zu Beginn des Films drastische Bilder gewählt. Das harte Thema und das Mordmotiv (sie werden in der Kritik nicht gespoilert) lassen sich nur schwer weich erzählen. Und auch das Team, das noch immer miteinander fremdelt, hält keine Wohlfühlmomente parat. „Nur Gespenster“ gelingt der dramaturgische Spagat zwischen Familiendrama und Whodunit-Krimi nicht über die gesamte Spielzeit, ist aber dicht erzählt und reich an vielen kleinen, angenehm beiläufig eingeworfenen Nebenplots, emotionale Kraftfelder, die plötzlich aufpoppen, und steht damit in der Tradition dieses eigenwilligen, immer schon etwas raueren „Polizeiruf“-Ablegers. Dazu gehört nicht zuletzt die starke Physis der Schauspieler, die von der Handkamera maßgeblich unterstützt wird und einen Realismus-Eindruck hinterlässt, der sich nicht nur aus dem Thema ableitet.

Der Tatort zeugt von purem Sadismus. Ein Mann wurde brutal überwältigt und bestialisch ermordet. Für Katrin König (Anneke Kim Sarnau) und Melly Böwe (Lina Beckmann) könnte es ein Cold Case sein. Denn es werden DNA-Spuren von einer vor 15 Jahren vermissten jungen Frau am Tatort gefunden. Als sie verschwand war sie, Jessica, 14 Jahre alt. Jetzt hat sie sich wieder gemeldet, zunächst bei ihrer Mutter Evelyn (Judith Engel), die der Polizei wohlweislich nichts davon erzählt. Vielleicht ist die Tochter ja nur wieder aufgetaucht, um Rache zu nehmen? Das Milieu jedenfalls, in das Jessica damals abrutschte, war keins, welches sich Eltern für ihre Kinder wünschen. Nach dem Verschwinden ist die Ehe zerbrochen: Evelyn hat sich in eine Traumwelt geflüchtet, der Vater (Holger Daemgen) zieht zwar ein Versagen seinerseits in Betracht, beurteilte die Situation jedoch realistischer und hat Jessica vor drei Jahren für tot erklärt. Ihre beste Freundin, Michelle (Senita Huskic), die bis heute nicht aus der Drogenszene herausgekommen ist, gibt sich auffallend einsilbig. Dabei scheint sie mehr zu wissen, möglicherweise auch Jessicas jüngerer Bruder Henrik (Adrian Grünewald). Die gesamte Familie trägt jedenfalls nicht sonderlich zur Klärung des Falls bei. Als ob die Kommissarinnen nicht schon genug eigene Probleme hätten: Böwe wird von Thiesler (Josef Heynert), der ihr den Chefposten neidet, ständig blöd angemacht und auch König bekommt Nachrichten aus der Vergangenheit – von ihrem „toten“ Vater!

Polizeiruf 110 – Nur GespensterFoto: NDR / Christine Schroeder
„Folter vom Allerfeinsten“, konstatiert Pöschel am Tatort gewohnt unsensibel. König (Anneke Kim Sarnau) und Böwe (Lina Beckmann) inspizieren mit Rechtsmedizinerin Maria (Dela Dabulamanzi) die geschundene Leiche; auch für den Zuschauer kein schöner Anblick.

Das Thema und das Mordmotiv sollen in dieser Kritik ungenannt bleiben, um den Vorablesern den Whodunit-Anteil dieses Krimidramas nicht zu nehmen.

Der „Polizeiruf 110 – Nur Gespenster“ benötigt keinen der immer häufiger werdenden Warnhinweise für Zuschauer vor einem Film, die Eingangssequenz ist Warnhinweis genug. Für übermäßig empfindliche Gemüter sind diese Bilder ebenso wenig „geeignet“ wie die Geschichte. In einer assoziativen Montage werden aus dem Film markante Bilder vorweggenommen: Folter, Blut, Knebel, das Meer, ein Strand, eine im Wasser treibende Leiche, eine Blondine, die dem Meer entsteigt. Ein Racheengel? Zwei Szenen später folgt das Resultat der Folter. Nicht ohne Grund werden diese drastischen Bilder gewählt. Die Frage ist, ob man sie anders erzählen sollte? Die Antwort bleibt eine Frage des Geschmacks. Den radikaleren Weg zu gehen und so möglicherweise eine Million Zuschauer zu verlieren, ist eine ehrliche, konsequente Haltung. Es gibt Themen, die man nicht weich filmen sollte, die wehtun müssen. Dieser dritte „Polizeiruf“ mit Anneke Kim Sarnau und Lina Beckmann im Doppelpack ist so eine Geschichte. Die Gewaltdarstellung ist in dem Film von Andreas Herzog (Regie) und Astrid Ströher (Buch) jedenfalls kein Selbstzweck, noch dürfte sie – trotz Ästhetisierung – beim ARD-Publikum als cool durchgehen. Vor allem sagt die Gewalt etwas über die Charaktere, über den Schmerz, das Leid, die Wut, so wie dies auch für die andere Seite des Gefühlsspektrums gilt: die märchenhafte, hell ausgeleuchtete Traumwelt der von Judith Engel verkörperten Mutter. Verunsichert, verhuscht, nicht von dieser Welt: eine typische Engel-Performance – immer wieder faszinierend.

Polizeiruf 110 – Nur GespensterFoto: NDR / Christine Schroeder
Jessicas Mutter (wie paralysiert: Judith Engel) hat sich seit dem Verschwinden ihrer Tochter vor 15 Jahren in ihre eigene Welt zurückgezogen: Sie war sich stets sicher, dass Jessica noch lebt. Sie soll recht behalten. Doch weshalb zeigt sich Jessy nicht?

Obwohl „Nur Gespenster“ visuell nicht so hart und unerbittlich bleibt wie in den ersten Minuten, so verzichtet der Film darauf, sowohl den Charakteren als auch den Zuschauern irgendwann Balsam auf die Seele zu schmieren. Die „Neue“ ist zwar insgesamt umgänglicher, bei den Befragungen freundlicher, sie hat ein Gespür für Menschen und ist weniger spröde als die faktenorientierte Profilerin König, dennoch geht diesen beiden Kommissarinnen momentan jedes Wohlfühlpotenzial ab, noch erzeugen sie diese attraktive, die Schwere eines Falls relativierende physische Spannung, die einst zwischen Bukow und König für magische Momente sorgte. Veränderung gibt es auch bei den anderen im Team: Zunächst scheint es, als ob der deutlich umgänglicher gewordene Pöschel (Andreas Guenther) seine Arschloch-Rolle an Thiesler weitergegeben hat – bis Böwe eine klare Ansage macht: „Ich bin jetzt Ihre Vorgesetzte, ob es Ihnen passt oder nicht. Und wenn sich der Umgangston nicht ändert, dann kann das hier ganz unangenehm werden. Aber nicht für mich.“ Das Ermittlerquartett muss sich also noch finden. Das gehört zum Realismus dieser Reihe, die zwar gern mal mit einem horizontalen Subplot verblüfft (diesmal mit der Wiederauferstehung von Königs Vater), die vor allem aber aus den Charakteren heraus entwickelt wird und nicht dadurch, dass man den Figuren ein (neues) Konzept überstülpt. Während „Meine Familie kann man sich nicht aussuchen“ als Nachklapp wie als Neuanfang gut funktionierte, überzeugte „Daniel A.“ vor allem als Drama einer Transidentität: ein „Polizeiruf“, den man nicht so schnell vergisst.

„Nur Gespenster“ versucht nun den Spagat zwischen Familiendrama und Tätersuche-Krimi. Dieser dramaturgische Drahtseilakt klappt nicht über die gesamte Spielzeit. Die Macher:innen haben sich dagegen entschieden, den Täter (früh) offen zu führen, für einen klassischen Whodunit aber gibt es zu wenige Optionen und für ein Krimi-Drama bleiben nach dem ersten Drittel theoretisch höchstens drei Verdächtige. Wer ein bisschen die deutschen Krimimuster mitdenkt und die „Nur Gespenster“-Geschichte vorausdenkt, für den dürfte zur Halbzeit alles klar sein. Und wer das Ganze noch einmal von Ende aus betrachtet, der wird sich in einigen Szenen an ein nicht ganz stimmiges Figurenverhalten erinnern. Linear betrachtet dürfte die narrative Konstruktion dagegen durchaus funktionieren. Die Geschichte ist reich an vielen kleinen, angenehm beiläufig eingeworfenen Nebenplots, emotionale Kraftfelder, die plötzlich aufpoppen: Katrin Königs Vater, ihr enormes Aggressionspotenzial (gehört nicht zum deutschen Krimialltag), die Animositäten im Team, Ermittlungen um das Opfer, „ein misogynes Arschloch“, die Fassaden-Existenz der Mutter, die Kiffer-WG. Das alles steht in guter „Polizeiruf“-Rostock-Tradition. Authentische Milieus, in den Nebenrollen entsprechend unbekannt, aber treffend besetzt. Nicht zu vergessen der physische Realismus, der maßgeblich durch die Handkamera früh Einzug hielt in die Reihe; Bildgestalter Marcus Kanter setzt wieder stark auf diese Technik. Stimmig ist auch die Art und Weise der Auflösung. Sie entspricht einem Krimidrama, verzichtet klugerweise auf einen actiongeladenen Last-Minute-Rescue oder Ermittler-zentrierten Showdown. Am Ende dann beredte Blicke, ein „bis morgen“, was ein klein wenig Hoffnung macht nach diesem belastenden Fall.

Polizeiruf 110 – Nur GespensterFoto: NDR / Christine Schroeder
Coole Kiffer-Stimmung. Warum sich von der Polizei aus der Ruhe bringen lassen, Bro‘? Wie immer im „Polizeiruf 110“ aus Rostock stimmen Milieu und Besetzung.

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Reihe

NDR

Mit Anneke Kim Sarnau, Lina Beckmann, Judith Engel, Andreas Guenther, Josef Heynert, Senita Huskic, Adrian Grünewald, Holger Daemgen, Uwe Preuss, Wolfgang Michael

Kamera: Marcus Kanter

Szenenbild: Sonja Strömer

Kostüm: Katja E. Waffenschmied

Schnitt: Gerald Slovak

Musik: Chris Bremus

Soundtrack: PJ Harvey („To Bring You My Love“), Shirin David & Kitty Kat („Be a Hoe/Break a Hoe“), Moderns („I Want You To Want Me“)

Redaktion: Philine Rosenberg

Produktionsfirma: filmpool fiction

Produktion: Iris Kiefer, Nikola Bock

Drehbuch: Astrid Ströher

Regie: Andreas Herzog

Quote: 7,65 Mio. Zuschauer (24,8% MA)

EA: 17.12.2023 20:15 Uhr | ARD

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