Anfangs ist es eine Notlösung: Weil Adem (Valon Krasniqi), den es aus seiner Heimatstadt Köln nach Marburg verschlagen hat, keinen WG-Platz findet, heuert er bei einer Studentenverbindung an. Ein Zimmer für 150 Euro, dazu Gemeinschaftsräume wie in einem britischen Club – diese Art Traditionspflege lässt er sich gern gefallen. „Weltoffen, und jeder ist willkommen“, wie es auf der Internet-Plattform der Gothia heißt, und Glaubenssätze wie „Hier sind alle gleich“ und „eine echte Gemeinschaft“ klingen für den Deutschen mit kosovarischen Wurzeln erst mal gar nicht verkehrt. Und die Studenten selbst? „Senior“ Paul (Ferdinand Lehmann) gibt sich kumpelhaft und Jung-Fux Sven (Kasimir Pretzschner) ist nett und unbedarft. Mit seinen Sprüchen gewöhnungsbedürftiger ist hingegen Timo (Michael Schweisser), und unschlüssig ist Adem, was er von „Kon-Senior“ Vincent (Vito Sack) und seinem Hang zu Mensur-Ideologie und vollem Ornat halten soll. Dass er allerdings einen falschen Namen angibt: Adam Kamer statt Adem Kameri – das dürfte ihm noch auf die Füße fallen. Denn über die Gothia hat der ehrgeizige „Adam“ auch einen lukrativen Job bei einem millionenschweren Vermögensverwalter bekommen. Dass dieser Alfons (Richard von Weyden) der Vater von Paul ist, der stark unter dessen überzogenen Ansprüchen leidet, sorgt für weiteres Konfliktpotenzial, ebenso, dass Adem seiner Uni-Bekanntschaft Mina (Roxana Samadi) seine neue Unterkunft verheimlicht.
Foto: ZDF / Tatiana Vdovenko
Was im Krimi oder Gangsterfilm der Kiez, die Mafiafamilie oder der syrische Clan sind, das sind in dem ZDF-Vierteiler „Füxe“ die gar nicht immer so schneidigen, dafür umso sauffreudigeren Burschenschaftler und ihre rückwärtsorientierten Rituale. In dieser streng hierarchischen Welt aus Pflicht, Respekt und Gehorsam muss sich die Hauptfigur erst einmal zurechtfinden. Vorurteilsfrei geht der Kosovo-Deutsche an die Sache ran. Seine Herkunft, das Land seiner Eltern, ist von den Autoren David Clay Diaz und Joe Hofer (Buch) klug gewählt: Kameradschaft und Gemeinschaft sind Werte, die auch der Mutter (Hanife Sylejmani) und dem Vater (Kasem Hoxha) noch etwas bedeuteten. In Deutschland bleibt den Kameris vor allem eines: die Familie. Und so scheint sich Adem alias Adam in der ersten Folge mit dem passenden Titel „Wir sind eine Familie“ auch recht wohl zu fühlen im Schoße der Burschen und Füxe. Unwohl fühlt er sich allenfalls wegen seiner Lüge, die womöglich gar nicht mal für die Aufnahme in der Gothia nötig gewesen wäre. Dieser pflichtbewusste junge Mann, der sich deutscher als jeder Deutsche gibt, scheint bei allem Ellenbogeneinsatz ohne emotionale Nähe nur schwer auszukommen. Er sei eben ein sensibler Junge, sagt die Mutter einmal. Entsprechend liebevoll ist sein Verhältnis zu seiner jüngeren Schwester (Juliana Koczulla), und ohne die Herzensnähe zu seiner Mina geht nur wenig.
Foto: ZDF / Tatiana Vdovenko
Obwohl es der Titel nahelegt, stehen in „Füxe“ (ZDF) nicht die Studentenverbindungen und ihre national-konservative Gesinnung im Fokus. Natürlich schwingt in den Szenen Vieles mit, was von reaktionärem Gedankengut zeugt. Je höher der Alkoholpegel, umso eher verfallen die halbstarken Hardliner auf ein menschenverachtendes Vokabular einer rechten Gesinnung. Aber es gibt auch andere Momente und andere Burschen in Adems neuem Luxus-Domizil, die schwerer einzuschätzen sind. Wenn es um die eigenen (Minderwertigkeits-)Gefühle geht, dann können die meisten auch anders. Der Alkohol löst die Zunge. Die vermeintlich zum Führen Geborenen sind plötzlich armselige Würstchen, von Selbstmitleid beseelt. Großartig eine Szene am Ende der zweiten Episode „Dem Tüchtigen hilft das Glück“: einer beichtet, ein anderer beichtet im Zuge einer tränen- und bierseligen Nacht zurück – und plötzlich kippt die Situation, zeigt sich die hässliche Fratze des Denunziantentums. „Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf“ heißen denn auch die dritten 45 Minuten, in denen sich zeigt, dass es gar nicht so weit her ist mit den gepriesenen Werten und Ehrbegriffen bei der Gothia. Jeder ist sich selbst der Nächste. Und jeder hat gute Gründe dafür: Mal ist es die Herkunft, die einen der jungen Charaktere behindert, mal die unhinterfragte Tradition, mal der Druck der eigenen Familie. Muss man aber deshalb den Druck weitergeben?
Foto: ZDF / Tatiana Vdovenko
„Irgendwann muss man sich entscheiden, was für ein Mensch man sein will“, sagt der „alte Herr“, bei dem Adem auch unter richtigem Namen Karriere machen kann. Und eine weitere Lebensweisheit, bezogen auf die Moral des Einzelnen, klingt einem im Ohr: „Man hat immer die Wahl.“ Das sagt nicht nur Adems sozial engagierte Freundin, nein, auch eben jener Geschäftsmann, der täglich mit Millionenbeträgen jongliert. Die Macher tun gut daran, diesen Appell zu mehr Haltung, im Übrigen eine markante narrative Prämisse, die auch fürs echte Leben gilt, nicht auf die Dramaturgie zu übertragen. Und so ist „Füxe“ erfreulicherweise weder ein pädagogisch motiviertes Themen-Vehikel noch ein naives Sozialmärchen. Auch vermeiden Hofer und Diaz allzu krasse Gegenpole und eine überdeutliche Schwarzweiß-Zeichnung. Zwar ist Adem auf den ersten Blick die perfekte Identifikationsfigur, hilfsbereit, einfühlsam, kein Lautsprecher, ein guter Sohn, zurückhaltend, aber nicht schüchtern und mit einem gesunden Selbstvertrauen gesegnet, doch auf den zweiten Blick könnte man sein Alter Ego Adam auch anders interpretieren. Anfangs ist Mina sehr angetan von beiden, Adem wie Adam, dem netten Kosovoer Junge und dem zielstrebigen deutschen BWL-Studenten. Aber ein Lügner, Manipulator und Verräter, der den Versuchungen einer Blitzkarriere und des gesellschaftlichen Aufstiegs nicht widersteht, das ist er eben auch. Beim Zuschauen mag das untergehen, weil sein egoistisches Verhalten vor allem die Burschenschaftler trifft und weil Valon Krasniqi diesen ambivalenten Charakter so sympathisch und liebenswert verkörpert.
„Füxe“ ist eine ungewöhnliche Serie. Keine sogenannte „Instant Drama“-Produktion zum schnellen Verbrauch. Mit drei Stunden hat sie die richtige Länge, und die Aufteilung in vier Folgen entspricht dem Erzählten. Auch die weiteren Hauptrollen sind mit Ferdinand Lehmann („Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution“), Vito Sack („Tatort – Die Kalten und die Toten“) und Roxana Samadi („Para – Wir sind King“) glänzend besetzt. Die Inszenierung von David Clay Diaz („Me, We“) und Susan Gordanshekan („Die defekte Katze“) ist angenehm zurückhaltend, sachlich und wird mitgetragen von der Raum-Qualität der Burschenschafts-Villa, deren Tradition schwer auf den schmalen Schultern der halbwüchsigen Elite-Jungs zu lasten scheint. Sogar der selbstbewusste, in sich ruhende Held wirkt bisweilen etwas verloren, ja fehl am Platze in diesem hochehrwürdigen Gemäuer, das man mal so richtig durchlüften müsste. Umso heller, lockerer und luftiger die Stimmung in den Outdoor-Szenen: So wurde die erste ernsthafte Annäherung zwischen Adem und Mina in einer einzigen Einstellung gedreht. Kurzweilige, launige dreieinhalb Minuten lang folgt man dem Pärchen: Dialoge, Körpersprache, alles in Echtzeit, realistischer geht’s nicht. Möglicherweise hatte ja Kameramann Dino Osmanovic die schönste Straßenschlender-Plansequenz der Filmgeschichte (Seberg & Belmondo in „Außer Atem“) dabei vor Augen – wenngleich die Marburger Fußgängerzone natürlich nicht die Champs-Elysées ist. (Text-Stand: 3.9.2023)