Deutsches Haus

Katharina Stark, Altaras, Prenn, Engelke, Wagner, Hübchen, Annette Hess, Chahoud, Prahl. Die Auschwitzprozesse – Ein Meilenstein in der Aufarbeitung des Holocausts

Foto: Disney+ / Krzysztof Wiktor
Foto Thomas Gehringer

Die fünfteilige Serie „Deutsches Haus“ (Gaumont / Disney+) erzählt von einem historischen Einschnitt: 20 Jahre nach dem Holocaust werden die ungeheuerlichen Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands endlich umfassend und unleugbar in der breiten Öffentlichkeit der BRD thematisiert. Berichte in Zeitungen und Rundfunk vom ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-65) tragen Zeugenaussagen über den Alltag der KZ-Häftlinge, über bestialische Foltermethoden und den Massenmord in den Gaskammern in die Familien. „Deutsches Haus“ handelt von den Erschütterungen, die das Aussprechen und Erkennen der Wahrheit bei den Tätern, Mitläufern, Opfern und ihren Kindern auslöst. Annette Hess schrieb das Drehbuch nach ihrem eigenen, 2018 erschienenen Roman mit der Figur einer jungen Dolmetscherin im Mittelpunkt. Neben Katharina Stark spielt ein zum Teil prominent besetzter Cast (Altaras, Tambrea, Engelke, Wagner, Seifried, Prenn, Hübchen, Berben, Dwyer, Lauterbach) groß auf. Die Serie ist Familien-, Generationen- und Emanzipations-Drama, Zeit-Porträt und Gerichts-Thriller gleichermaßen, schonungslos und beklemmend, aufklärerisch und ungemein packend. Randa Chahoud und Isabel Prahl (Regie) verzichten auf Rückblicke mit KZ-Bildern, Nazi-Klischees und romantischen Kitsch.

Dezember 1963: Eva Bruhns (Katharina Stark) ist derart verliebt, dass sie es kaum erwarten kann und ihren designierten Verlobten frierend im Schneetreiben auf der Straße empfängt. Sie hat sich herausgeputzt für Jürgen Schoormann (Thomas Prenn), der nun das erste Mal Evas Eltern seine Aufwartung machen will. Jürgen ist der Sohn des in die Jahre gekommenen Versandhaus-Millionärs Walther Schoormann (Henry Hübchen). Familie Bruhns dagegen betreibt in Frankfurt am Main die Traditions-Wirtschaft „Deutsches Haus“. Man erschrickt kurz über Anke Engelke als Evas Mutter Edith mit komischer Hochsteckfrisur, denn all die Engelke-Figuren, die man so mit sich herumträgt, könnten dieser Rolle in einer Drama-Serie über den Auschwitz-Prozess im Wege stehen. Doch die Bedenken verfliegen schnell. Edith wirkt mit ihrer stets kerzengeraden Haltung wie eine konservative Muster-Hausfrau, aber Engelke macht aus ihr keine gefühlskalte Klischeefigur. Großartig auch Hans-Jochen Wagner als Ludwig, der gutmütige Vater, der alles andere ist als ein verstörter Kriegsheimkehrer. Überhaupt wird viel getafelt und gefrühstückt in dieser Serie, in der der Mann die Schürze trägt, denn Ludwig ist der Koch im Deutschen Haus. In ihrem Beruf geht auch die ältere Tochter Annegret (Ricarda Seifried) auf, die als Pflegerin auf der Geburtsstation eines Krankenhauses arbeitet. Dass sie „heilfroh“ sei, „keinen Mann abzubekommen“, wie Annegret sagt, nimmt man der selbstbewussten, schlagfertigen Schwester ab. Und auch Eva ordnet sich keineswegs ihrem designierten Bräutigam bedingungslos unter. Als der Anruf vom Gericht kommt, ob sie kurzfristig als Übersetzerin einspringen kann, lässt sie Jürgen bei den Eltern kurzerhand allein. Der ist nicht begeistert, aber versteht sich gut mit Evas Vater. „Ich hab‘ Ja gesagt“, erklärt Ludwig strahlend seiner Tochter. „Ich auch“, antwortet Eva – meint aber damit, dass sie das Angebot angenommen hat, beim Auschwitz-Prozess zu dolmetschen.

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Dezember 1963: Noch scheint es für Eva (Katharina Stark) nichts Wichtigeres zu geben, als einen Mann fürs Leben zu finden. Wird Unternehmersohn Jürgen (Thomas Prenn) um ihre Hand anhalten? Es kommt eine Zeit, da ist ihr das nicht mehr wichtig.

„Anfang der 60er Jahre erfuhren die ahnungslosen oder sich ahnungslos gebenden Deutschen und die Welt aus dem Mund hunderter Zeuginnen und Zeugen zum ersten Mal umfassend und radikal von einem der größten Verbrechen der Menschheit, das mit dem Wort Auschwitz für alle Zeit beschrieben ist. Dieser Prozess bildet den ersten Meilenstein in der Aufarbeitung, die bis heute andauert und andauern muss. Never forget!“ (Annette Hess, Autorin)

Das Frankfurter „Deutsche Haus“ wird also von einer recht sympathischen Nachkriegsfamilie bestellt, die nicht mehr den typischen 50er-Jahre-Muff repräsentiert. Die Zeit des Aufbruchs hat begonnen, was sich auch in verschiedenen Hits aus der Zeit widerspiegelt, die jedoch in die Handlung eingebettet und nicht als plumpe Stimmungsaufheller eingesetzt werden. Denn die Serie lässt von Anfang an keinen Zweifel daran, dass hier schonungslos zur Sprache kommen wird, worüber in Westdeutschland knapp zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eisern geschwiegen wird. Für die erzählerische Entwicklung braucht es eine naive, aber empathische Hauptfigur wie Eva, die sich in mehrfacher Hinsicht emanzipiert: von der allgemeinen und der eigenen Verdrängung ebenso wie von der Bevormundung durch ihren Verlobten, denn in jener Zeit mussten Frauen noch die Erlaubnis ihres Mannes einholen, wenn sie arbeiten gehen wollten. Jürgen wiederum hat seine eigene Auseinandersetzung mit dem Vater, dessen Altersdemenz ein wenig rätselhaft bleibt, auch weil Hübchen den Patriarchen so schön knurrig und unberechenbar spielt. Dass die weibliche Hauptrolle in dem doch ziemlich prominenten Cast mit einer noch nicht allzu bekannten Nachwuchs-Schauspielerin besetzt wurde, erweist sich als Volltreffer: Katharina Stark verkörpert Evas jugendliche Naivität ebenso perfekt wie die intellektuelle Wachheit und das Mitfühlen ihrer Figur. Evas vollkommene Ahnungslosigkeit wirkt dennoch befremdlich, zumal sich nach und nach persönliche Erinnerungen an einen besonderen Ort ihrer Kindheit einstellen.

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Spätestens als Eva (Katharina Stark), eine kluge fiktive Schlüsselfigur, der Jüdin Rachel Cohen (Iris Berben) begegnet, vergeht ihr das naive Fräuleinwunder-Lächeln. Schon bei ihrem ersten Termin bei der Staatsanwaltschaft verschlug es ihr den Atem. „Vergasen“ gehörte bislang nicht zum polnischen Wortschatz der Übersetzerin.

Annette Hess, Autorin der drei „Ku’damm“-Staffeln (ZDF) und der Wende-Familiensaga „Weissensee“ (ARD), hat einige Erfahrung mit historischen Stoffen. „Deutsches Haus“ erschien zuerst als Roman und wurde nun von Randa Chahoud und Isabel Prahl nach dem Drehbuch von Hess in Polen verfilmt, etwas überraschend für das Streamingportal des Disney-Konzerns, der nach dem Erfolg des in 33 Ländern veröffentlichten Romans auch internationales Interesse an der Serie erwartet. Mit der Dolmetscherin hat Hess eine kluge fiktive Schlüsselfigur erdacht, weil sie im Prozess die Brücke bildet zwischen Zeugen, Gericht und Öffentlichkeit. Das funktioniert natürlich nur, weil wirklich Polnisch ohne Untertitel gesprochen wird. Eva macht einen Lernprozess durch, von der Anfängerin, die bisher nur in Wirtschaftssachen vor Gericht eingesetzt wurde und deshalb buchstäblich keine Worte hat für den Massenmord, bis zur einfühlsamen Begleiterin der Zeugen vor Gericht. So ist insbesondere die ausführliche Szene in der zweiten Episode, in der die noch etwas unsichere Dolmetscherin zum ersten Mal für einen Zeugen im Auschwitz-Prozess übersetzt, außerordentlich gelungen. Eva trifft auf Menschen, die es eine ungeheure Überwindung kostet, über ihre Erlebnisse zu sprechen – zumal ihnen nicht gerade Empathie entgegenschlägt. Im ersten Auschwitz-Prozess (1963-65) wurden die 22 Angeklagten von 19 Verteidigern vertreten. Die Serie konzentriert sich vernünftiger Weise auf eine Figur, den Verteidiger Fritz Jerichow, furchterregend kalt gespielt von Sabin Tambrea.

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Historische Top-Serie mit Top-Besetzung: Katharina Stark, Max von der Groeben, Anke Engelke, Iris Berben und Heiner Lauterbach

Insbesondere die zahlreichen Szenen im Gerichtssaal sind von einer packenden, freilich auch enorm beklemmenden Intensität, beginnend bei der Verlesung des Eröffnungsbeschlusses in der ersten Episode. Als einer der Richter die lange Liste der Verbrechen vorliest, zeigt die Kamera in Nahaufnahme nur sein Gesicht. Der Mammutprozess wird räumlich reduziert und inhaltlich konzentriert, auch wenn zahlreiche Zeuginnen und Zeugen auftreten. Deutsch ist die Sprache der Mörder. „Lernen Sie schon mal das notwendige Vokabular: Alle erdenklichen Worte, wie man Menschen töten kann“, fordert der junge Staatsanwalt David Miller (Aaron Altaras) die Dolmetscherin auf. Eine Ausnahme bildet Rachel Cohn, die vor Gericht unbedingt Deutsch sprechen will. Iris Berben spielt diese Ärztin mit polnischem Akzent als gebrochene Frau, die in Auschwitz ihren Mann und ihre Zwillings-Kinder verloren hat – und nun ihre Verzweiflung und Wut ins Gesicht der Angeklagten schleudert. Ihre Figur ist offenbar fiktiv, aber die Protokolle der 319 Zeugenaussagen bilden das sichere Fundament für die vielen Schicksale, die auch heute noch erschüttern. In der vierten Episode reisen die Prozessbeteiligten außerdem zu einem Ortstermin nach Auschwitz. Auch das wird eindrucksvoll und sensibel inszeniert, ohne das ikonische Bild von der Einfahrt und der Rampe im Vernichtungslager Birkenau, dafür mit einer echten Schweigeminute vor der Todeswand im Stammlager, vor der Zehntausende erschossen wurden. Dass hier keine umfassende Rekonstruktion erfolgt, wird auch in der fünften Episode deutlich, wenn das Urteil eher beiläufig einfließt – über eine Meldung im Radio. Und Uwe Preuss, der den Vorsitzenden Richter Hans Hofmeyer im Prozess so juristisch nüchtern und ohne erkennbare Emotionen spielt, hat am Ende seinen eindringlichsten Auftritt: als brüchige Stimme, die über die Lautsprecher auf den Gerichtsflur übertragen wird.

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Die Anklagebank. Das sachliche Verlesen der Anklageschrift, die endlose Reihe der Gräueltaten, spiegelt die (Erzähl-)Haltung des Films, ebenso wie die Schweigeminute an der Gedenkstätte in Auschwitz, die im Film sogar 80 Sekunden dauert. Was später im Gerichtssaal folgt, das sind von Seiten der Täter die immer gleichen Phrasen. „Das entzog sich meiner Kenntnis.“ Oder: „Ich war nie auf der Rampe.“ Boger (Heiner Lauterbach), Mulka (Martin Horn) und Verteidiger Jerichow (Sabin Tambrea)

Auf der Täterseite rücken zwei Männer in den Mittelpunkt: der Hauptangeklagte Robert Mulka (Martin Horn), Adjutant des Lagerkommandanten, und Wilhelm Boger, der für seine sadistischen Verhörmethoden berüchtigt war. Das Modell der „Boger-Schaukel“ wird wie im echten Prozess nachgebaut, und wie 1963 prangt im Frankfurter Gerichtssaal ein Lageplan von Auschwitz an der Wand. Heiner Lauterbach spielt den Wilhelm Boger wie einen unbeteiligten Zuschauer, was beinahe noch unerträglicher ist als die Unschuldsbeteuerungen und Ausreden. Von Reue keine Spur. Zudem sind die Mörder angesehene Bürger. Der zu Wohlstand gekommene Mulka ist wie andere sogar auf freiem Fuß und logiert mit seiner noch ganz im Geist der Nazizeit gefangenen und um ihren Status fürchtenden Frau Erna (Hildegard Schroedter) im Hotel Vier Jahreszeiten. Und Boger darf seine Familie in U-Haft zum Essen empfangen, das in einem separaten Raum serviert wird, als wäre er Ehrengast statt Häftling. Zum Zeitbild gehören auch die antisemitischen Sprüche des Hotelwirts von Rachel Cohn und der unverhohlene Rassismus von Bogers Ehefrau Therese (Bettina Engelhardt), die entsetzt davon ist, dass ihre Tochter einen italienischen Freund anschleppt. Mulka wurde tatsächlich mal während des Krieges wegen einer abfälligen Bemerkung über Propaganda-Minister Goebbels denunziert. Noch konstruierter erscheint die private Handlung um die Familie Boger. Doch auch in diesem Fall hält sich Annette Hess grundsätzlich an die Realität. Wie die Autorin tittelbach.tv mitteilte, hatte Boger mehrere uneheliche Kinder, auch habe eine Tochter ein Kind von einem Italiener erwartet. Dass Boger in der Fiktion wie ein nachsichtiger Vater wirkt, soll wohl das Entsetzen seiner Tochter umso größer erscheinen lassen. Sie erkennt im Vater ein zweites Wesen, das zu monströsen Taten fähig ist – wie all die anderen ganz gewöhnlichen Männer, die da in Schlips und Anzug auf der Anklagebank sitzen und kaum eine Gefühlsregung zeigen.

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Durch den Prozess ist Eva sensibilisiert für die Nazi-Verbrechen. Auch ihre Eltern (Anke Engelke, Hans-Jochen Wagner) müssen sich von ihr unliebsame Fragen gefallen lassen. Das „Wir müssen uns nicht schämen“, bezieht sich bei Evas Mutter allerdings nicht auf die NS-Zeit, sondern auf das Hier und Jetzt. Wir sind wieder wer!

Soundtrack: Peter Alexander & Cornelia Froboess („Verliebt, verlobt, verheiratet“), The Big Three („Cavern Stomp“, „Some Other Guy“), Dionne Warwick („Anyone Who Had a Heart“), Rolling Stones („Come on“)

Dagegen stehen ihre vom Leid gezeichneten Opfer wie Rachel Cohn oder der jüdische Staatsanwalt Miller, der gegenüber Zeugen auch mal aufbrausend wird. Miller ist neben Eva die wichtigste Hauptfigur, denn sie steht für das Trauma vieler Holocaust-Opfer, die von Schuldgefühlen geplagt wurden, weil sie überlebten, während Millionen starben. Im „Bunker“, so der Name des Frankfurter Clubs, in dem viel getanzt und viel getrunken wird, trifft Miller auf die einsame Prostituierte Sissi (Alice Dwyer). Zwischen beiden entwickelt sich eine eigenwillige Freundschaft, doch glückliche Romanzen hat die Serie mit ihrem teils offenen Ende nicht zu bieten. Nahezu jede Figur schleppt hier unausgesprochene Geheimnisse, verborgene Verletzungen und verdrängte Schuld mit sich herum. Und während der leitende Staatsanwalt Hans Kübler (Max von der Groeben) im Prozess die mühsame Beweissuche trotz einiger Rückschläge vorantreibt, sorgen die öffentlich verhandelten Verbrechen für tiefe, bleibende Erschütterungen in der Gesellschaft. Keine Familie bleibt verschont.

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Mit Katharina Stark, Aaron Altaras, Thomas Prenn, Anke Engelke, Hans-Jochen Wagner, Henry Hübchen, Ricarda Seifried, Sabin Tambrea, Heiner Lauterbach, Martin Horn, Iris Berben, Alice Dwyer, Agnieszka Salamon, Max von der Groeben, Uwe Preuss, Bettina Engelhard

Kamera: Julian Hohndorf, Andreas Köhler

Szenenbild: Siarhei Haiko

Kostüm: Nannette Schwarz, Anna Wojczuk

Maske: Karolina Syndonin

Casting: Maria Rölcke, Cornelia Mareth

Schnitt: Daniel Scheuch, Adrienne Hudson

Musik: Lukas Lindner

Produktionsfirma: Gaumont

Produktion: Sabine de Mardt

Drehbuch: Annette Hess – nach ihrem Roman „Deutsches Haus“

Regie: Randa Chahoud, Isabel Prahl

EA: 15.11.2023 10:00 Uhr | Disney+

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