Bevor der nächste Fall neue Fragen aufwirft, klärt Viktoria Wex (Claudia Eisinger), was nur sie klären kann. Sie löst ihren Ehering, wirft ihn in den See und sieht in Gedanken ihren Mann Felix ein letztes Mal. Schluss jetzt mit Mondgeschichten und trauriger Erinnerung. Die Gegenwart blickt Wex mit Kollege Leon Pawlak (Sebastian Hülk) ins Gesicht. Manchmal fragend, nie aufdringlich, immer ihr zugetan. Nach dem eher staksig gespielten Beginn eines schicksalhaften Wiedersehens bringen die Hauptdarsteller Eisinger und Hülk mit ihrem nuancierten Spiel den sechsten Fall auf gehobenes Schauspiel-Niveau. Noch vor dem Auffinden einer Leiche hegen Zuschauer da wahrscheinlich schon den ersten Verdacht. Es ist eine falsche Fährte, der noch viele folgen werden. Zwischen vielen Vermutungen liefert Kriminaltechnikerin Wex wie gewohnt die Fakten: Der Fundort war nicht der Tatort, das Opfer Agnieszka Witczak (Katharina Schumacher) nicht wirklich mit ihrer angeblichen Enkelin Marika (Cindy Klink) verwandt.
Mit der gehörlosen Marika rückt die zentrale Nebenfigur und das zentrale Thema des Falls in den Fokus. Drehbuchautorin Nadine Schweigard (schrieb auch das Buch zu „Freund oder Feind“, Film 4 der Reihe) erdachte eine junge Frau, die nach dem angeblichen Unfalltod ihrer Eltern bei der Großmutter aufwächst, und sich im Spagat zwischen zwei Welten übt. Hier das Leben auf einer masurischen Fischfarm, dort der Traum von einem Start-Up in Kalifornien. Visuell übersetzt Regisseurin Frauke Thielecke („Ein Tisch in der Provence“) die Geschichte in eindrucksvoll ungemütliche Bilder von wimmelnden Fischschwärmen in zu kleinen Zuchtbecken und in einen leuchtenden Datenhandschuh, mit dessen Hilfe Marika im Gespräch mit den Ermittlern Gebärdensprache in akustische Signale umwandelt. Die App dazu hat sie selbst entwickelt, in Kalifornien interessiert man sich inzwischen dafür. Weil eine krebskranke Großmutter ihren Plänen im Wege stand, gerät auch Marika in Verdacht.
Mit der „verlorenen Tochter“ in lebendiger Version, also der Figur Marika, verknüpft Autorin Schweigard Fragen, die im Genre des Familiendramas beliebt sind. Wer bin ich? Woher stamme ich? Was trage ich in mir? Werde ich geliebt? Parallel dazu fitzelt das Ermittlerteam auf der Suche nach Angnieszka Witcaks Mörder die wahren Familienverhältnisse auseinander. Der Masuren-Krimi handelt jetzt mit Zutaten, die das Publikum so eher von der Küste Cornwalls kennt: ein Findelkind ungeklärter Herkunft, viele Lebenslügen, die Hoffnung auf Reichtum und dadurch Gefahr. So sitzt man bald gemeinsam vor Gräbern („War ich nicht nur taub, sondern auch blind?“) und findet unter jedem Dach ein Ach. Zwischen all den kleinen Dramen fehlt die Zeit, dem eigentlichen Täter und seinem Motiv ein interessantes Profil zu verleihen. Einmal mehr atmosphärisch sehr stimmig umgesetzt, bleibt der Film, was die Krimi-Geschichte angeht, eher mau. Ein Versprechen auf das große Verbrechen bietet dagegen der horizontale Erzählstrang um den Tod von Viktorias Mann. Kurz vor Schluss führt eine nächtliche Beschattungsaktion zu einem Wiedersehen mit Viktorias undurchsichtiger Ex-Kollegin Johanna Berger (Bea Brocks) und in der letzten Einstellung zu einem Cliffhanger, der auf den nächsten „Masuren-Krimi“ neugierig macht. (Text-Stand: 2.2.2024)