Ein Hotel, zwei Paare, eine österreichisch-ungarische Adelsfamilie, ein aufstrebendes Bürgertum – und der Erste Weltkrieg zeichnet sich immer deutlicher am Horizont ab. Der ZDF-Zweiteiler „Das Sacher. In bester Gesellschaft“ beginnt im Jahre 1892, und seine Geschichte endet nach über 200 Minuten mit der Ausrufung der Ersten Republik Österreich 1919. Im Gegensatz zum Dreiteiler „Das Adlon“, der sich bereits im Titel als „Familien-Saga“ zu erkennen gibt, haben sich die Macher dieser deutsch-österreichischen Koproduktion auf eine historisch anspruchsvollere Unternehmung eingelassen: auf die Jahre des Untergangs der Belle Epoche und des Beginns des Industriezeitalters. Es ist eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, der Umstrukturierung Europas und der ideologisch-politischen Radikalisierung durch reaktionäre und reformerische Kräfte. Vor allem aber ist dieser kaiserlich-königliche Wiener Schlussakkord „gefühlt“ sehr viel weiter weg für die Menschen heute als das moderner anmutende Berlin der Weimarer Republik. Es ist von daher auch eine größere Kunst, was Autorin Rodica Döhnert, die auch schon das Drehbuch für „Das Adlon“ schrieb, mit ihren Geschichten rund um das legendäre Hotel Sacher geschaffen hat. Ohne eine klassische romantische Liebesgeschichte und ohne simple Heldenfiguren, die es auf die wohlfeile Identifikation mit dem Zuschauer abgesehen haben, dafür stärker multiperspektivisch erzählend, das Sittengemälde sogar mit Krimi- und Thrillerelementen angereichert, das mag vielleicht den ganz großen Erfolg beim Publikum erschweren, für diesen historischen Stoff sind das aber die richtigen dramaturgischen Entscheidungen. Denn die Zeiten stehen insgesamt schlecht für die ganz große, romantische Liebe. „Die Welt steht auf dem Kopf.“
Die Geschichte beginnt in einer tragischen Nacht. Der Hotelier Eduard Sacher stirbt, die uneheliche, elfjährige Tochter einer Wäscherin wird entführt und zwei jung verheiratete Paare, die Ungarin Konstanze von Traunstein (Josefine Preuß) und ihr Mann Hans Georg (Laurence Rupp) sowie die Berliner Verlegerin Martha Aderhold (Julia Koschitz) und ihr Gatte Maximilian (Florian Stetter), beziehen Quartier im Hotel Sacher, das fortan von der geschäftstüchtigen Witwe Anna Sacher (Ursula Strauss) geführt wird. Erst später werden sich die Wege der Vier schicksalhaft kreuzen. Die Frauen eint das Geheimnis, dass sich die Fürstin das Unglück ihrer Ehe und ihrer gesellschaftlichen Rolle von der Seele schreibt und bald als „Lina Stein“ zur Bestsellerautorin wird. Und Konstanze und den Möchtegern-Literaten Maximilian eint später das Geheimnis um eine leidenschaftliche Nacht. Während dieses Geheimnis nicht lange währt, wird Konstanzes Mann zu Lebzeiten nichts vom Doppelleben seiner Frau erfahren. Jener Hans Georg stellt sein Leben in den Dienst des Gemeinwohls, er steht der Friedensbewegung nahe, ist sozial engagiert, seine Frau aber, die ihm mit ihrer Mitgift seine Politik finanziert, ist ihm fremd. Wüsste er, dass sie „Lina Stein“ ist, wüsste er durch ihre Bücher, was sie wirklich denkt. Das aber ist nicht in Konstanzes Interesse. Sie ist unglücklich, aber sie hat sich in diesem Leben eingerichtet. Dass ihr Mann allerdings noch ein Kind mit einer Bediensteten hat, das wird sie ihm nicht verzeihen können. Es sei denn, dieses Schicksal taugt für einen Roman. Dass auch Martha und Hans Georg Sympathien füreinander hegen, sie jedoch sehr viel zurückhaltender äußern, war zu erwarten. Schließlich nennt Autorin Döhnert Goethes „Wahlverwandtschaften“ als eine wichtige Inspirationsquelle.
Die vier Hauptcharaktere spiegeln den Horizont der Zeit, jeder steht für eine gesellschaftliche Haltung oder politische Position: Die hochwohlgeborene Konstanze verkörpert das Drama ihrer Herkunft und ihres Geschlechts; ihr Hans Georg, ebenfalls von Adel, steht für Aufklärung und Demokratie; Martha ist modern, selbstbestimmt, eine Vertreterin des aufstrebenden Bürgertums, zahlt für ihre (finanzielle) Unabhängigkeit aber einen hohen Preis; ihr Max ist ein Individualist, Liebe, Lust, Literatur, das sind die Triebkräfte seiner Welt. Und auch die tragenden Nebenfiguren sind klar gezeichnet als Vertreter ihrer Zeit, ohne bloße Ideenträger zu sein. Anna Sacher steht für die neue Rolle der Frau; „der Herr im Haus bin ich“, sagt die Fleischerhauertochter voller Genugtuung und entsprechend cool pafft Ursula Strauss ihre Zigarren. Peter Simonischek als Josef von Traunstein gibt mit wenigen Szenen einen starken Eindruck von der tiefen Kränkung, die die neue Zeit für den privilegierten Adel bedeutet haben muss. Und Jasna Fritz Bauers Marie ist die wohl bizarrste Figur in diesem historischen Reigen: entführt, vermeintlich gerettet vom Notenwart der Wiener Staatsoper, lebt sie sechs Jahre von ihm versteckt im unterirdischen Notenarchiv, bevor sie, intellektuell gestählt durch die Jahre in der Gefangenschaft und an keine gesellschaftlichen Konventionen gebunden, einen eigenwilligen, geradezu feministischen Weg zu gehen scheint, der dann allerdings nahtlos in den größten ideologischen Irrweg des 20. Jahrhunderts übergeht.
Die Ambivalenz vieler Figuren ist dramaturgisch die größte Überraschung dieses ZDF/ORF-Zweiteilers. Nicht jeden der Helden schließt man sofort in sein Herz. So ist die Fürstin trotz ihres Doppellebens ein Leben lang der traditionellen Etikette verpflichtet, bleibt unglücklich und dem Zuschauer heute eher schwer zugänglich. Josefine Preuß spielt sie in jungen Jahren wie einen in Konventionen erstarrten Backfisch, aufgedreht, affektiert, ohne rechten Halt. Es ist sicher kein Zufall, dass es nur einen Ort gibt, an dem Konstanze in späteren Jahren die Contenance verliert: im Bett an der Seite des Mannes ihrer einzigen Freundin. Diese, Martha, gibt Julia Koschitz als emanzipierte Frau und sehr viel anschlussfähiger an heutige Rollenbilder; zur liebenswerten, glamourösen Heldin macht das diese emotional kontrollierte Unternehmerin allerdings nicht. Gleiches gilt im Übrigen auch für die Sacher-Chefin, „diese Institution“, wie es im Film heißt, „die über jedes menschliche Geplänkel erhaben ist“. Noch zwiespältiger sind lange Zeit die Männer gezeichnet: der eine ein sympathischer, aber narzisstischer Selbstverwirklicher, der andere ein nicht minder selbstbezogener Wohltäter des Gemeinwesens, beide mit Florian Stetter und Laurence Rupp gut und stimmig besetzt. Häufig sind es die Beziehungen, das Verharren in einer lieblosen, arrangierten Ehe, die die unangenehmen Seiten bei den Menschen hervorbringen. Die Ambivalenz der Hauptfiguren zeigt sich auch darin, dass man als Zuschauer nur schwer, eindeutige Präferenzen entwickelt, wer denn nun mit wem glücklich werden solle. Man spürt: Zum Glücklich werden ist diese Zeit nicht ideal, sind diese Menschen nicht in der Lage. Dass Döhnert diese realistische Einschätzung der Zeit wichtiger ist als eine gefühlsbetonte Helden-Dramaturgie, dass sie nicht mit den heutigen Vorstellungen von Liebe an eine Saga übers Fin de Siècle geht, macht diesen Zweiteiler, den Regisseur Robert Dornhelm elegant bebildert, aber stets fokussiert auf die Schauspieler inszeniert hat, zu einer überraschend anspruchsvollen „Event“-Unternehmung.
„Das Sacher. In bester Gesellschaft“ erzählt von einer Zeit, von der viele Zuschauer sehr wenig wissen. Es ist deshalb umso bemerkenswerter, wie es Autorin und Regisseur gelingen, die politischen, (geistes)geschichtlichen und vor allem zwischenmenschlichen Besonderheiten jener Jahre jenseits der individuellen Hauptgeschichten mitzuerzählen, ohne sich in allzu vielen Erklärdialogen zu verlieren und ohne eine einzige Volkshochschulstunden-Szene. Die sparsamen Kommentare von Portier Mayr, den Robert Palfrader tonlagen- und stilsicher verkörpert, bilanzieren immer dann die Stimmungen der Zeit oder erinnern an einen in den Hintergrund getretenen Handlungsstrang („Was unter der schönen Oberfläche lag, das wurde schnell vergessen“), wenn die Geschichte ein paar Jahre weiter springt. Der Rolle des Portiers als Chronist seiner Zeit entspricht das Hotel Sacher als Haus Österreichs in einer Zeit, als die k.u.k.-Doppelmonarchie noch etwas galt in Europa. Dieses mythenumwobene Wiener Haus dient im Film als Metapher für eine untergehende gesellschaftliche und politische Kultur, für die Handlung ist es ein wichtiger Treffpunkt der vier Hauptcharaktere, der Ort, an dem die Fäden der Geschichte immer wieder zusammenlaufen. Auf karikaturhafte Randfiguren, wie man sie gelegentlich in „Das Adlon“ antraf, wird im Hotel Sacher verzichtet (Tarrachs ungarischer Diplomat bleibt die Ausnahme). Alles steht im Zeichen vom Glanz & Niedergang des alten Österreichs. Die Wiener Lebensart kann das nicht erschüttern. Und wenn auch einer der Helden sich am Ende sein „von“ aus seinem Namen streichen lässt, ein „Küss die Hand“ oder ein „Ihr untertänigster Diener“, das lässt sich ein Sacher-Portier nicht nehmen.