Das Ungleichgewicht zwischen Serie, Reihe & Einzelstück
(4.12.2024) Hatten sich Reihen und TV-Einzelstücke in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre auf ein harmonisches Miteinander eingependelt, scheint nun die Serie moderner Prägung der Totengräber des Fernsehfilms zu sein. Die Fernsehsender schaffen sie vorsätzlich ab. Die Entwicklung des Fernsehens verläuft bekanntlich in Wellen. Die Programmmacher sollten sich daran erinnern. So wurde beispielsweise der 90-Minüter schon Ende der 1980er Jahre für tot erklärt. Doch das Format berappelte sich unter dem Einfluss neuer erfolgreicher Krimi-Reihen wie „Bella Block“ im ZDF oder weiteren „Tatort“– und gesamtdeutschen „Polizeiruf“-Ablegern sowie den knalligen TV-Movies der Privatsender und reifte nach einem dramaturgisch-narrativen Paradigmenwechsel (Dresen & Krohmer; Graf, Kleinert, Fromm, Adolph) weg vom Zeigefinger-Themenfilm, Anfang der 2000er Jahre, zu neuer Blüte. Dieser zweite Frühling dauerte fast fünfzehn Jahre. Ohne diese Hausse des 90-Minüters und den deutlichen Qualitätssprung einiger Krimi-Reihen hätte es tittelbach.tv – der fernsehfilm-beobachter nicht gegeben.
Seit Ende der 2010er Jahre ist das Angebot an Must-See-Fernsehfilmen und Ausnahme-Krimis überschaubar geworden. Es begann der Serien-Hype, forciert vom internationalen Fernsehen, von dem sich die Branche hierzulande nicht abhängen lassen wollte, wohl wissend, dass Serien für Produzenten lukrativer sind und sie Sendern möglicherweise eine größere Zuschauer-Bindung bescheren; außerdem entspricht das kleinteilige Format den Sehgewohnheiten in den Mediatheken. Spätestens nach Corona wurde – zumindest hierzulande – aus dem Serien-Hype ein Boom. Jeder ARD-Sender braucht(e) seine eigenen Serien. Darüber wurden die Fernsehfilme vernachlässigt. Dass ein Lebenszeit- und Geldfresser-Format wie die Serie allein nicht das Rezept sein kann, haben die Trendsetter der Branche, die großen Streamer, längst realisiert und setzen verstärkt auf Filme. Die öffentlich-rechtlichen Sender werden irgendwann nachziehen. Hoffentlich ist es dann nicht zu spät. Den einst obligatorischen Fernsehfilm-Termin am Mittwoch im Ersten hat die ARD schon so gut wie kaputt gemacht… Seine Existenzberechtigung in der Fiktion – wegen der zuverlässig hohen Einschaltquoten – allein mit Krimis und einigen anspruchsvollen, eher quotenschwachen Premium-Serien zu legitimieren, reicht für einen gebührenfinanzierten Sender nicht aus. Irgendwann könnte der demografische Wandel sogar die Krimi-Blase zum Platzen bringen. Dieser Mord-und-Totschlag-Overkill ist ohnehin einem öffentlich-rechtlichen Sender unwürdig – weil er die Gesellschaft nur unzureichend abbildet. Auch wenn viele aktuelle Krimi-Reihen längst nicht mehr im Whodunit alter Autorenschule vor sich hindümpeln, so reicht doch die Ermittlerkrimi-Dramaturgie nicht aus, komplexe soziale und psychologische Konfliktlagen mit den Problemlösungsstrategien des Krimis zu erzählen. Es ist deshalb längst an der Zeit, das gesellschaftliche Thema Nr. 1, Diversität, auch zu einem ästhetisch-narrativen zu machen.
Krimi-Schwemme und vorsätzlich erzeugte Fernsehfilm-Baisse werfen einen Schatten auf die Fernsehfiktion dieses Jahrzehnts. Ausgerechnet der Totengräber sorgt für die Lichtblicke der letzten Fiction-Saisons: „Babylon Berlin“, „Bonn – Alte Freunde, neue Feinde“, „37 Sekunden“, „Der Schatten“, „Nackt über Berlin“, „Tage, die es nicht gab“ oder „Wer wir sind“ gehörten zu den öffentlich-rechtlichen Highlights 2023. Mit „Oderbruch“, „Reset – Wie weit willst du gehen?“, „Sexuell verfügbar“, „Kafka“, „Die Zweiflers“, „Informant“, „Finsteres Herz – Die Toten von Marnow 2“, „Love sucks“, „Jugend – Es ist kompliziert“ u.v.a. ist die Ausbeute in diesem Jahr sogar noch besser. Der Trend, bei den Serien mehr in die Nischen zu gehen, den braven TV-Realismus zu verlassen und fantastischere Genres auszuprobieren, und diese neuen Serien vor allem für die Mediatheken zu produzieren und deren Ausstrahlung in den späten Abend zu verschieben, ist der richtige Weg. Da von den Streamern auf Dauer eher weniger deutsche Originals zu erwarten sind (sehenswerte Ausnahmen wie „Kleo“, „Perfekt verpasst“ oder „Angemessen Angry“ bestätigen die Regel), kommen ARD, ZDF und Arte wieder verstärkt ins Spiel, wenn es um Innovation, Anspruch und Qualität im Serien-Bereich geht. Aber bitte auch die Einzelstücke nicht vergessen! Man kann ZDF und ARD nur empfehlen, die drei Formate wieder in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Rainer Tittelbach